Sonntag, 30. Dezember 2012

Zufall?

Die persönlichen Probleme sind zumeist, wenn man sie nur angemessen universalisiert, nichts anderes als die Menschheitsprobleme.

Es ist immer offensichtlich, wer man ist, ob man nun lügt oder die Wahrheit spricht. Allerdings ist es sehr bequem, einen Menschen bloß beim Wort zu nehmen.

Sowohl die Wahrheit als auch die Weisheit sind grammatikalisch betrachtet weiblich. Ein Zufall?

Wer gütig ist, wird die Wut eines Menschen nicht mit diesem selbst verwechseln. Mit anderen Worten: Der Gütige kann den Wütenden als Wütenden nicht ernstnehmen.

"Niemand versteht mich!" - so spricht, wer sich nach nichts sehnlicher sehnt, als endlich missverstanden zu werden, nämlich nicht so, wie er sich selbst versteht.

Man muss den Kopf immer oben haben, auch wenn man sich gerade über ein Buch beugt.

Man kann auch absichtlich unverständlich schreiben, um das Verstehen des Lesers entweder hinauszuzögern oder ganz unmöglich zu machen. Damit verhindert man, schnell verstanden und damit auch, schnell widerlegt zu werden. Der redliche Leser wird nur das als Unsinn bezeichnen, was er auch verstanden zu haben meint. Was er nicht versteht, kann er nicht widerlegen. Im Gegenteil neigen viele Leser sogar dazu, das, was sie nicht zu fassen bekommen, für tief und weise zu halten. Ein Großteil der Ehrfurcht, die die Bildungsbeflissenen gegenüber der Kultur empfinden, rührt von der bloß erahnten Bedeutung dessen her, was sich nicht in ihren Köpfern ansiedeln mag.

Dem Lässigen genügt die Gewissheit, dass er gewinnen wird. Dann auch tatsächlich zu gewinnen, nein, das ist ihm zu banal.

Freitag, 28. Dezember 2012

Weisheit für Steine

Man gesteht sich seine Schwächen erst dann in vollem Umfang ein, wenn man an ihnen zu arbeiten angefangen hat. Mit anderen Worten: Erst durch die Praxis können wir uns erkennen. Wer nichts tut, verändert sich nicht; und wer sich nicht verändert, kann sich nicht von sich selbst unterscheiden und also auch nicht erkennen. Wir können uns, gleich den Schlagen, immer nur in unseren abgestreiften Häuten wiederentdecken. Ergo: Wir kommen immer zu spät, wo wir uns auch suchen mögen.

Wer liebt, widerspricht. "Alles verstehen heißt alles verzeihen" - das ist eine Weisheit für Steine.

Donnerstag, 27. Dezember 2012

Dämonen

Als ich am Boden lag, wäre es den Dämonen leicht möglich gewesen, mich endgültig auszulöschen. Aber sie taten es nicht. Wie eine Katze die Maus leben lässt, um mit ihr zu spielen, so ließen mich auch diese Dämonen leben. Und vielleicht spielen sie noch jetzt mit mir; etwa indem sie mich wähnen lassen, dass ich ihnen etwas Substantielles entgegenzusetzen hätte.

Wer sich bessern will, wird ein verfeinertes Gefühl für alle Zeichen seiner Besserung entwickeln; ihm wachsen hundert neue Augen. Vielleicht wird er auch die zweifelhafte Fähigkeit ausbilden, diese Zeichen in die Dinge hineinzuentdecken ... Aber ich bin nicht Skeptiker genug, um das Belogenwerden zu fürchten. Ich habe keine Angst, mich täuschen zu lassen. Das werden auch die Dämonen gerne hören. Manchmal, wenn es ganz still ist, erlausche ich ihr Lachen, Lästern und Lustigsein. Dann frage ich mich, wer hier eigentlich wen täuscht? Sie mich? Ich sie? Wissen sie, dass ich sie höre? Oder tun sie nur so, als ob sie nicht wüssten, dass ich sie höre? Diese Nuss sollen andere knacken. Es gibt keine Dämonen.

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Alte Ernste

Wer das Gute nicht tut, kann auch kein guter Mensch sein. "Aber eigentlich bin ich ganz anders." Nein, bist du nicht!

"Wie könnte ich's ihr sagen?" - mit Fragen wie dieser hebt das Unheil an. Sehr viel über einen Menschen nachzudenken, ohne mit ihm zu sprechen, ist niemals gut. Die Liebe bekommt etwas Schwärmerisches, Wehleidiges, Wirkungsloses ... Ich will nicht an sie denken, um sie in meiner Imagination nicht zu einem Wunder entarten zu lassen. Die entscheidende Frage ist immer diese: Könntest du ihr das auch ins Gesicht sagen? Wenn nicht, so waren deine Hoffnungen nur aus Träumereien geboren. Im Licht des Tages werden sie sich auflösen - und dir wird klar werden, dass du die ganze Zeit überhaupt nicht an sie gedacht hast ...

Ich habe lange durchbuchstabiert, was ein autonomes Denken heißen könnte. Ob ein Denken autonom ist-, entscheidet sich jedoch jenseits des bloßen Denkens - im Leben. 

Wenn die Differenz zwischen dem, was wir den Menschen sagen, und dem, was wir über sie denken, zu groß ist, entstehen Schuldgefühle. Wir schielen: Mit einem Auge schauen wir nach außen, mit dem anderen kleben wir in uns selbst fest. Wer sich bessert, stellt sich viele Fragen, die er lange Zeit für die entscheidenden gehalten hat, nicht mehr. Die metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen - eine schöne Metapher, da hast du Recht. Ich gehe sie schnell archivieren und komme dann wieder, um mit dir auf das neue Jahr anzustoßen.

Es ist nicht möglich, etwas nicht zu denken, wenn man nicht verstanden hat, warum es besser ist, es nicht zu denken. Denken heißt immer auch, sich selbst zu erziehen, sich also in vielerlei Hinsicht nicht (mehr) allzu ernst zu nehmen. Eines Tages werden wir mit einem Lächeln auf all diese alten Ernste schauen dürfen - so zumindest stelle ich mir den jüngsten Tag vor.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Nebenplatz des Lebens

Viele Menschen wünschen sich, attraktiv zu sein. Attraktivität hat den Vorteil, dass ihre Wirkung eine unmittelbare ist, während sich die Facetten eines gewinnenden Charakters erst mit der Zeit offenbaren. Wer attraktiv ist, hat beim anderen Geschlecht mehr Chancen, selbst dann, wenn er oder sie dämlich dreinblickt. Ja, das Leben ist ungerecht. Diese Ungerechtigkeit betrifft allerdings nur einen, wenn auch hoffnungslos überfüllten, Nebenplatz des Lebens; der Centercourt ist jedem jederzeit zugänglich. Denn was nützte es, begehrenswert zu sein, wenn man ein innerlich armer, zu Empathie unfähiger Mensch bliebe? Wäre es nicht unendlich viel wichtiger, an seiner Liebens-würdigkeit zu arbeiten, anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man auf andere wirkt? Auf die Frage, was zu tun sei, um ein liebenswerterer Mensch zu werden, kann es nur eine Antwort geben: Lieben! Dass es irgendwelche Kriterien zu erfüllen gelte, um liebenswert zu sein, beispielsweise ein möglichst attraktives Äußeres, ist eine Ausrede. Es kann keinen Grund geben, nicht zu lieben und damit auch keinen, nicht geliebt zu werden. Die Tür zum Centercourt steht immer offen; anders als bei Kafka wird kein zynischer Türhüter aus dem parabolischen Dunkel hervorspringen, um sie zu bewachen. Wenn es irgendwo einen Türhüter gibt, dann nur im Herzen des Menschen, der sich einredet, dass ihm ausgerechnet das Wesentliche verschlossen bleiben müsste. Frohe Weihnachten!

Samstag, 22. Dezember 2012

Räusche des Wachseins

Es geht immer damit los, dass man die Bilder mit der Wirklichkeit verwechselt ... Warum habe ich mich bei Facebook angemeldet? Irgendwie fühlt es sich nicht gut an, inmitten all dieser Leute, die augenscheinlich nur auf Party aus sind, gelistet zu werden. Aber wie gesagt: Man sollte die Bilder nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Aber was ist die Wirklichkeit? Ich lehne mich mal aus dem Fenster und sage, dass nichts wirklicher sein könnte als ein menschliches Herz, das um sich selber weiß. Ich werde Facebook nicht nutzen, um irgendeine Individualität zu zelebrieren, die ich nicht habe. Ich werde mir einige Gruppen ansehen, die mir neue Möglichkeiten eröffnen, ein paar Nachrichten schreiben und lesen - mehr nicht. Was immer ich in den letzten Wochen herausgefunden habe, es ist zu wichtig, um es zugunsten irgendwelcher Selbstdarstellungsspielchen zu verraten. Ich werde mich auch nicht in die UB hocken, um Angry Birds zu spielen. Meine Räusche sind Räusche des Wachseins, des bis auf die äußerste Spitze getriebenen Bewusstseins. Mein Alkohol heißt Koffein.

Ich habe mich zu lange gehen lassen. Deswegen weiß ich genau, welche Worte Menschen, die sich gehen lassen, verletzen. Mein Schreiben ist masochistisch; ich verkünde keine in der Sonne gereifte Weisheit, sondern berichte von jenen Orten, an denen meine Hoffnungen mit meinen Gewohnheiten im blutigem Kampfe liegen. Ich lese nur noch Bücher, die mir widersprechen. Ich muss den Druck hochhalten. Dieser Staub darf sich niemals wieder legen.

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Kein Grund

Vielleicht lieben Männer und Frauen anders. Wenn dir eine Frau also etwas über die Liebe erzählt, kannst du es ohne Bedenken in Parenthese setzen. Setze aber auch dieses "ohne Bedenken" noch in Parenthese.

Unschuldig allein ist die Aktivität. Sie ist unschuldiger als die Unschuld selbst.

"Letztlich kommt es auf mich an" - Egoismus und Selbsterkenntnis gehen von der gleichen Prämisse aus.

Es kann keinen Grund geben, nicht zu lieben.

Dein schlechtes Gewissen beweist, dass du zu mehr fähig bist. Denn wenn du vollkommen unfähig wärst, würdest du dich nicht deiner Unfähigkeit wegen schämen. Du weißt aber, dass dir das "Ich kann nicht anders" versperrt ist. Und im Grunde willst du auch, dass es dir versperrt ist. Du ahnst dein Können - und damit deine Verantwortung.

Wir können nicht naiv sein wollen. Über die Naivität zu reflektieren heißt, sie auszulöschen. Aber wir können das Wesentliche tun und darüber das Unwesentliche vergessen. In den Augen jener, die das Unwesentliche für das Wesentliche ansehen, verhalten wir uns dann naiv. Durch den fremden Blick erfahren wir erst von unserer Naivität. Wir können noch gar nicht wissen, welche Naivitäten wir an uns noch entdecken werden, weil wir die Bosheit noch nicht kennen, mit der man einst nach uns schauen wird.

Schaffe Möglichkeiten - dann werden auch deine Hoffnungen immer gute Nistplätze haben!

Man kann nicht glücklich werden, ohne Glück zu spenden.
   

Dienstag, 18. Dezember 2012

Scheißperfektionismus

Geliebter Bruder,

während ich dir immer freundliche Grüße geschickt habe, hast du mir immer nur beste Grüße geschickt. Du bist eben schon immer ein Perfektionist gewesen. Schon damals, als wir gerade erst das Schreiben gelernt hatten und uns darauf freuten, endlich unsere ersten Briefe schreiben zu können, hast du schon mit dem besten Gruß beschlossen. Schon damals waren dir freundliche Grüße nicht freundlich genug. Es mussten eben die besten Grüße sein. Die besten Grüße seien eben die besten, hast du mir einmal geschrieben, und wer freundliche Grüße sende, grüße nicht auf die bestmögliche Weise.

Auch heute noch sendest du mir nur beste Grüße, keine freundlichen, wenn du mir eine Mail schreibst. Sogar deiner Mutter sendest du nur beste Grüße, während sie dir immer nur freundliche Grüße sendet. Das weiß ich, weil sie mir geschrieben hat, und weil sie mir in diesem ihrem Schreiben geschrieben hat, wie du ihr schreibst. In der ganzen Familie sendest nur du beste Grüße, während wir anderen einander freundliche Grüße senden. Immer willst du herausstechen, anders und etwas Besonderes, eben der Beste sein. Der Beste, der nur beste Grüße sendet. Ich will ja nicht kleinkariert wirken - du weißt genau, dass ich nicht kleinkariert bin; Mutter hat dir bestimmt schon einmal geschrieben, dass ich nicht kleinkariert bin -, aber diese deine Eigenart, beste statt freundliche Grüße zu senden, fällt mir schon auf, solange ich denken kann. Ich habe dir bestimmt auch schon einmal geschrieben, dass mir auffällt, welche Grüße du mir schickst, nämlich beste Grüße, in einem Brief, den ich mit freundlichen Grüßen beschlossen habe, wie es sich gehört. Ich habe so oft Briefe an dich mit freundlichen Grüßen beschlossen; und immer dachte ich, mit meinen freundlichen Grüßen auf dich einwirken zu können. Aber es half nichts; noch heute beschließt du alles, was du mir schreibst, mit besten Grüßen. Vielleicht versuchst du ja ebenso, auf mich einzuwirken, indem du mir statt freundlichen beste Grüße sendest. Bist du etwas so berechnent, so kleinkariert, so, wie soll ich sagen, perfektionistisch? Warum kannst du nicht akzeptieren, dass ich so bin, wie ich bin, nämlich freundlich und alles andere als kleinkariert? Ich meine es doch nur gut. Aber dein Scheißperfektionismus ist eben scheiße.

Mit freundlichen Grüßen
Dein Bruder

Montag, 17. Dezember 2012

Lernen als Geschwür

Lernen heißt nicht, dass du stillsitzt und zuhörst, was ein Lehrer oder Dozent dir erzählt. Alles, was du bloß deshalb mitschreibst, weil es irgendjemand für "relevant" hält, wird dir nichts bringen. Mache dir immer wieder klar, dass du nur für dich lernst. Höre niemals auf, die Frage nach dem Wozu deines Lernens zu stellen. Wenn du das Gefühl hast, ein sinnloses Wissen in dich hineinzufressen, kannst du dich nicht, gewissermaßen als Kompensation, für dein diszipliniertes Arbeiten loben. Deine Freude darüber, etwas zu lernen, darf niemals dem dümmlichen Bildungsstolz weichen, der sich selbst auf die Schulter klopft, weil er so vorbildlich und methodisch geläutert zu arbeiten gelernt hat. Es gibt keine Kompensation für die entgangene Freude. Deshalb musst du diese Freude einfordern; sie ist die Bedingung nicht nur jeder Erkenntnis ... Es gibt zu viele Menschen, die nur zu funktionieren gelernt haben. Und wo haben sie es gelernt? In der Schule. Sie haben gelernt, Wissen zu reproduzieren, auf vorgegebenen Fragen zu antworten und dass es wichtig ist, nicht unangenehm aufzufallen, wenn man Erfolg haben will. Sie haben immer nur für andere zu lernen gelernt, niemals für sich selbst. Im Grunde haben sie also überhaupt nichts gelernt, schon gar nichts über sich selbst. Das Lernen an sich, diese so belebende und erfrischende Aktivität, ist ihnen verargt worden; ein gute Stück ihres Menschseins selbst ist ihnen verargt worden.





Samstag, 15. Dezember 2012

Selbstüberschätzung

Ein Grund für die Selbstüberschätzung ist sicherlich darin zu suchen, dass wir über uns selbst immer mehr  „wissen“  als über alle anderen Menschen. Das Wenigste, das wir einander sagen könnten, sprechen wir tatsächlich aus; das meiste bleibt ungesagt. Und selbst die Gedanken, die es schaffen, geboren und ausgesprochen zu werden, erwecken oft nicht den Eindruck, aus irgendeiner Tiefe geschöpft zu sein. Daraus allerdings zu schließen, dass der andere tatsächlich so arm, so beschränkt und phantasielos ist, wie es seine Rede vermuten lässt, hieße, sich einer optischen Täuschung hinzugeben. Wer wäre denn immer fähig, das auszusprechen, was seine Seele konvulsieren lässt? 

Das Schweigen, das selbst aus der lebhaftesten Kommunikation herausgehört werden kann, sollte uns nicht dazu verleiten, zwischen uns und den anderen essentiell zu unterscheiden. Weil sich jemand nicht gut ausdrücken kann, heißt das noch lange nicht, dass er nichts in sich fühlte, dass es wert wäre, ausgedrückt zu werden. Das hört sich einleuchtend und menschlich warm an; letztlich ist aber ungewiss, was in einem solchen Menschen vorgeht. Er existiert für jemanden, der auf diskursive Rationalität steht, oft gar nicht. Die Verachtung des „großen Haufens“, wie sie in vielen philosophischen Texten der Tradition zu finden ist, legt davon ein unrühmliches Zeugnis ab. Schopenhauer ist ein gutes Beispiel, weil er mit größter Naivität dem Gefühl seiner Genialität Ausdruck gibt, während er auf der anderen Seite über den gewöhnlichen Mann, diese „Fabrikware der Natur“ ablästert.

Ich denke nicht, dass es zwischen den Menschen so große Unterschiede gibt, wie man leicht meinen könnte. Dass wir so sehr zwischen ihnen unterscheiden, liegt eben an der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksformen und ihres Schweigens. Es wäre jedoch unredlich, diese Verschiedenheit in das Sein selbst hineinzudichten. Es gibt keine flachen oder tiefen Menschen. Manchen können sich eben so auszudrücken, dass man sie für tief hält, das ist alles. Wer an tiefe Menschen glaubt, denkt flach.

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Trübe Tasse

Was ich auch an Aufbauendem und Inspirierendem schreiben mag, es lebt bloß aus der Sehnsucht nach dem Guten, nicht aus dem Guten selbst. Der Mensch, den der Leser oder die Leserin aufgrund meiner Texte imaginiert, ist jemand, dem ich mich selbst ausgeliefert fühlte, sollte ich ihm einmal begegnen. Denn nicht ich schreibe hier, sondern ein stilisiertes, ein aufgemotztes Ich. Der "Mensch dahinter" ist, man ahnt es, eine trübe Tasse. Alle meine Hoffnungen hängen in der Luft und ernähren sich von Exaltationen. Ich schreibe nicht, um ein Gefühl auszudrücken, sondern um es zu erzeugen oder wenigstens wahrscheinlicher zu machen. Gelegentlich falle ich mit voller Absicht auf meine eigene Rhetorik herein; dann verschmelzen Geschriebenes und Gelebtes zu einer neuen, klangvolleren Realität. Dass ich eine trübe Tasse sei, ist ein Urteil, das mich nicht mehr trifft, sobald ich zum Dichter meines Lebens mutiert bin. Das ist wie mit Hulk. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich schreibe. Es gäbe bessere, sicher. Und ich will eines Tages aus einem anderen Grund schreiben. Oder auch nicht mehr schreiben ...

Universale Erkenntnis

für Susanna zur Anregung 

Was immer wir auch denken, wir denken nur ein Detail, einen Ausschnitt der Welt. Das Verstehen des Universums, des Ganzen, des Alleinen ist uns nicht möglich; es ist auch überhaupt nicht klar, wie ein solches Verstehen beschaffen sein könnte. Wer sich, beseelt von der Hoffnung, in die letzten Geheimnisse des Seins einzudringen, in die Wissenschaften vertieft, wird unausweichlich enttäuscht werden. Denn jede Wissenschaft hat bestimmte Gegenstände, Methoden und damit Grenzen. Das sollte uns jedoch nicht daran hindern, all unser Wissen zusammenzudenken und zusammenzufühlen. Ein Mensch, der nach Erkenntnis strebt, wird gar nicht umhinkommen, interdisziplinär zu denken; man muss es ihm gar nicht anraten, es ist ihm natürlich. Jedes bloß fragmentarische und isolierte Wissen ist wertlos. Um etwas zu verstehen, muss man alles verstehen -  so spricht die Intuition all jener, die nach Erkenntnis lüstern sind.

Wissenschaftliche Forschung beinhaltet, sich bescheiden zu müssen mit dem wenigen, was man innerhalb seines begrenzten Denkhorizonts herausfinden kann. Viele Wissenschaftler sind geblendet von den Erfolgen, die sie auf ihren Gebieten erzielen und verabsolutieren ihre Methode, um sie auch auf anderen Gebieten anzuwenden. So führt die Sehnsucht nach einer allumfassenden Erkenntnis oft zu einem schnöden Reduktionismus. Etwas wird auf etwas anderes zurückgeführt: Der Geist ist bloß eine neuronale Gewitterwolke, ein Gedicht bloß die Wiederspiegelung eines Klassenbewusstseins, die Liebe nichts anderes als ein biologisch erklärbares Phänomen. Der Reduktionismus erzeugt den Schein allumfassender Erkenntnis, indem er die Welt aus einem Punkt heraus zu erklären sucht, aus irgendetwas Wesentlichem, Zentralem, aus etwas, das allem anderen vorgeordnet sein soll. Ein Physiker könnte beispielsweise sagen, dass alles Physik sei, womit er auch sicherlich richtig läge, denn wer würde leugnen, dass alles auch eine physikalische Grundlage hat? Aber wäre es etwa zweckdienlich, ein Gedicht Hölderlins experimentell zu untersuchen?

All unser Wissen ist fragmentarisch. Wir können unsere Durchdringung steigern, niemals aber das Ganze gänzlich begreifen. Und doch können wir vielleicht gar nicht anders, als uns immer wieder neue Wege zu diesem unbekannten, bloß erahnten Ganzen zu erschließen. Das, was denjenigen antreibt, der nach Erkenntnis strebt, hat der religiöse Mensch immer schon erreicht, und zwar ohne große Mühe. Wer denkt, denkt unweigerlich etwas Bestimmtes, während der Gläubige sich mit dem Ganzen verbunden fühlt. Und ist es nicht naheliegend, an etwas, das man nicht gedanklich fassen kann, zu glauben? Ist es nicht sogar unausweichlich? Müssen wir nicht alles, was wir verstehen wollen, bereits als Verstehbares antizipiert haben, um es überhaupt verstehen zu können? Könnte also die Antizipation des Alleinen das Movens selbst einer jeden partiellen Erkenntnis sein? Wir wissen, dass wir niemals alles wissen werden. Aber wer besäße Konsequenz genug, aus dieser so unabweislichen Ahnung den so naheligenden Schluss zu ziehen, dass das Streben nach allumfassender Erkenntnis aufzugeben sei? Wir mögen unsere Ambitionen begraben - unser unwiderstehlicher Zug hinaus und hinauf ins Umfassende, Verbindende, kosmisch Antizipierte und Allumschließende wird durch diesen bloß verstandesmäßigen Entschluss überhaupt nicht berührt, sondern lediglich modifiziert.

Samstag, 8. Dezember 2012

Ernst und Witzigkeit

Ich komme soeben aus einer Gesellschaft, deren Mittelpunkt ich war. Die Witzworte strömten von meinen Lippen. Alles bewunderte mich. Und ich, ich ging hinaus und ---------- der Gedankenstrich muss so lang sein wie die Radien der Erdbahn ------, ich ging hinaus und wollte mich erschießen. (Kierkegaard)

Vielleicht können nur wirklich ernste Menschen wahrhaft witzig sein, weil nur sie ihre Witzigkeit nötig haben - als Gegengift, als Medizin gegen den Schwindel, welcher ihnen der Blick in Abgründe bereitet. Sie mögen es genießen, im Mittelpunkt zu stehen und die Lacher auf ihrer Seite zu wissen. Doch dieser Genuss wird das Innerste ihres Herzens niemals erreichen; zu schmerzlich fühlen sie, dass man, indem man sie ihrer Worte wegen beklatscht, bloß die Grazilität feiert, mit der sie ihre Krücke zu führen verstehen.

Dass man viel reden kann, ohne irgendetwas zu sagen, ist eine Beobachtung, die ich auch an mir oft machen muss. Ich suche einmal mehr nach einer neuen Sprache und einem neuen Stil - und deshalb suche ich nach Menschen, die mich in meiner Hoffnung bestärken, dass eine neue Sprache und ein neuer Stil möglich sind, erfahrene Menschen vor allem, von denen ich viel lernen kann. Wie sollte ich sonst meine unerträgliche, seit der Pubertät mitgeschleifte Albernheit endlich abstreifen können? - Aber ist es denn überhaupt möglich, sie abzustreifen? Zu kultivieren? Müsste ich dazu nicht zuallererst meinen lächerlich-tiefsinnigen Ernst abzuarbeiten anfangen? Aber tue ich das nicht jeden Tag? ----------------------------

Das letzte Wort fällt nicht

"Wer nicht an Gott glaubt, der glaubt doch an etwas anderes, ob er dies nun wahrhaben will oder nicht." Es ist erstaunlich, wenn sich religiöse Menschen gerade dieses Arguments bedienen, um ihren Glauben zu rechtfertigen, suggeriert es doch, dass die Religion dem Menschen dazu dient, sein metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen, ein Bedürfnis, das eben auch anders befriedigt werden könnte. Damit ist die Wahrheit, die eine Religion verkündet, immer schon relativiert. Kann man an etwas glauben, von dem man weiß, dass es kontingent ist?

Wir wissen nie endgültig, wie jemand über uns denkt, was er fühlt, wenn er in unsere Augen schaut oder den Klang unserer Stimme hört; und ebenso unterliegen auch unsere Urteile und Empfindungen einem beständigen Wechsel. Das letzte Wort fällt nicht, das Rätsel dieses Lebens bleibt unaufgelöst. Gerade diese strukturelle Ungewissheit darüber, wie es mit unseren Beziehungen wirklich steht, verleiht ihnen einen ewig sich verjüngenden Reiz. Sich damit abzufinden, ein schlechter Mensch zu sein, heißt vielleicht, diese Ungewissheit gegen eine schlechte Gewissheit einzutauschen. Es scheint überhaupt nur schlechte Gewissheiten zu geben.


Der Mensch ist das Schicksal des Menschen. Alle Wege gehen von ihm aus und führen zu ihm zurück. Gott ist nur der Name einer Wegmarke.

Ich habe keine Grundsätze - aus Prinzip.

"Warum hast du die Schatzkammern bewachen lassen, wenn sie doch leer sind?", fragte der Räuber im Märchen den gefesselten Sultan. "Gerade weil sie leer sind, habe ich sie bewachen lassen", antwortete er.


Freitag, 7. Dezember 2012

Brennende Augen

Ist dir eigentlich bewusst, wieviele Menschen du mit deinem ungebrochenen Lebensmut verdrießlich stimmst? Nicht deine schroffen und unausgeglichenen Züge sind es, die sie an dir nicht leiden mögen, sondern deine Fröhlichkeit, dein Optimismus und diese unglaubliche Kraft, mit der du jedes Problem anpackst. Du bringst die Menschen dazu, über sich nachzudenken; sie fragen sich, warum sie nicht so sein können wie du. Durch deine bloße Existenz verletzt du sie, weil sie sich mit dir vergleichen. Wer könnte diesem Vergleich standhalten? Wo immer du hinkommst, erzeugst du eine gedrückte und verbitterte Menschheit. Niemand könnte dir etwas Böses vorwerfen, weil deine Güte eine echte, eine tiefempfundene und wahrhaft menschliche ist. Mit jedermann suchst du das Gespräch. Jedem gibst du eine Chance und hörst ihm aufmerksam zu, sprichst einfühlsam, aber auch kritisch mit ihm, wenn du dies für angebracht hältst.

Aber gerade diese deine Güte ist es, welche die Schmerzen in vielen Herzen befeuert, auch in dem meinen. Ich hoffe, dass wir niemals in eine Situation wie die folgende hineingeraten werden. Doch dir soll bewusst sein, dass, wenn ich vor die tödliche Wahl gestellt wäre, entweder dich oder einen Menschen zu opfern, von dem man sagt, dass er ein Arschloch sei, ich dich opfern würde. Ich zöge dir jemanden vor, für den Gutmensch ein Schimpfwort ist, der dreckige Witze liebt und sich nicht scheut, die Welt nach seinen engstirnigen Vorurteilen zu bemessen. Das Licht, das von dir ausstrahlt, blendet mich, ja es brennt mir geradezu in den Augen - da verkehre ich lieber im Dunklen mit meinesgleichen.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Dankbarkeit

Ahnungen dessen, was das Leben sein könnte, bevölkern seit Tagen schon mein verwundertes Herz. Mir ist bewusst geworden, dass ich etwas zu verlieren habe.

Natürlich werde ich auf die Fresse fliegen. Aber das ist letztlich nicht das Entscheidende. Wenn ein Mensch wirklich nach Erfahrung und Erkenntnis strebt, wird er nicht umhin können, selbst für seine grausamsten Rückschläge noch dankbar zu sein. Zu viel darf er aus ihnen lernen, als dass er ihrer entraten könnte.

Die wichtigste Tugend heißt Dankbarkeit.

Dienstag, 4. Dezember 2012

Verehrung verlernen

Wie kannst du dich über die Lyrik eines sogenannten Seelenverwandten freuen, wenn dir doch bewusst ist, dass sich diese Seelenverwandtschaft bloß auf der euch beiden gemeinsamen Fähigkeit gründet, Unfähigkeiten kunstvoll in Szene zu setzen? Ein melancholisches Gedicht Lenaus kann den Leser dazu verführen, sich in seiner Resignation biedermeierlich-bequem einzurichten. Aber hast du Texte nicht schon viel zu lange nach dem hin abgesucht, was dir zur Illustration und Rationalisierung deines Lebensunmuts dienlich sein könnte? Siehst du die Würmer nicht, die unter der dünnen Haut dieser morbiden Schönheit ihre Eier legen?

Schau' aus dem Fenster! Wo ist der Bach, der durch's Tal säuselte, wo der Wald, dessen Einsamkeit dein Herz erquickte? Wo die schöne Schäferin? Was du siehst, ist Beton, matt erhellt von elektrischem Licht. Das ist kein schöner Anblick, ja. Aber nur der Gedanke verdient es überhaupt, gedacht zu werden, der dir wehtut, dich ankotzt, der dich etwas kostet; nur so wird deinem Schmerz eine Zunge wachsen.

Du wirst deine Waffen schärfen müssen, um sie gegen das zu wenden, was du bisher am meisten verehrt hast: gegen die resignative Schönheit selbst. Das hört sich martialisch an und ist es auch. Sei dir jedoch bewusst, dass es sich dieses Mal nicht bloß um eine Selbstverständigung bezüglich ästhetischer Präferenzen handelt, sondern um Leben und Tod.
  

 

   

Die Krähe

Endlich auf dem Friedhof angekommen, wische ich den Schnee von den Grabsteinen. Ich suche das Grab des Vaters, den ich nie hatte, um es zu schänden, die Gräber der Geschwister, die ich nie hatte, um ihnen aus meinem Leben zu erzählen, und die Gräber meiner Kinder, die keinen Grund anzugeben wüssten, eines Tages mein Grab zu schänden, weil sie das Licht dieser Welt niemals erblicken werden.

Eine Krähe lässt sich vom verschneiten Birke fallen und schwingt sich auf meine Schulter. Einen Moment fürchte ich, dass sie mich beißen könnte, aber sie schaut mich nur interessiert aus schwarzen, aufmerksamen Augen an. Zusammen gehen wir weiter. Niemand nimmt Anstoß daran, dass mir eine Krähe auf der Schulter sitzt. Allerdings begegne ich an diesem nebligen Vormittag, über dem ein weißer Himmel leuchtet, auch nur drei Menschen. Und diese haben eben keinen Blick für mich, den lebenden Fremden, weil sie sich nur für ihre geliebten Toten interessieren. Ich kann's ihnen nicht verübeln.

Die Krähe ist nicht zerstreut, nicht zerfallen in sich; in ihren Blicken glüht Unruhe, aber kein Zeichen der Transpiration nach dem Absoluten - sie lebt ganz im Jetzt. Deshalb bin ich froh, dass sie dieses ihr Jetzt, ihr Einziges, ihre Ewigkeit mit mir teilt. Sie vertraut ohne Berechnung und ohne Hoffnung. Sie begleitet mich, als ich den Friedhof verlasse. Ihre Aufgabe kann sich unmöglich darin erschöpfen, für ein wenig triste Stimmung auf dem Gottesacker zu sorgen, denke ich. In der Tat scheint sie keine Neigung zu bewegen, nach diesem gleichermaßen hellen wie dunklen Ort umzukehren. 

Sonntag, 2. Dezember 2012

Danke!

Was der Mensch sei, ist eine Frage, die ich freilasse, so wie man einen Kanarienvogel freilässt, indem man ihm das Türchen seines Käfigs öffnet. Sie erregt mich einfach nicht, nicht mehr. Und wenn mir doch einmal jemand diese kantische Frage stellen sollte, womöglich deshalb, weil er mich mit so etwas wie einem Philosophen verwechselt, würde ich bloß Friedrich Kittler paraphrasieren:

"Was Mensch heißt, bestimmen keine Attribute, die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards."

Fragte mich dieser Mensch dann, was damit gemeint sei, würde ich nur mit den Achseln zucken. Was geht mich der Mensch an? Ich interessiere mich nur für lebendige Menschen in ihrer ganzen widersprüchlichen Konkretion. Was nützt es mir, mich an intellektuellen Leichnamen zu vergehen, an Männern, die sich gegen meine Missverständnisse ohnehin nicht mehr wehren können? Ich will neue Menschen kennenlernen, wachsen, lernen! Und nicht nur von Toten! Nicht mehr nur aus dem Wort für das Wort denken! Kant ist tot - Katharina lebt!

Gleichzeitig ist mir bewusst, dass das Eis, das meine Seele umschließt, sich vielleicht niemals ganz zerbrechen lassen wird, schon gar nicht mit einem dramatischen Effekt, der Tränen in die Augen eines unparteiischen Beobachters zu treiben vermöchte. Das ändert aber nichts daran, dass ich dieses Eis erhitzen und zum Schmelzen bringen kann, wenn auch immer nur in geringem Umfang. Es wird nicht leicht werden, so viel ist sicher. Aber letztlich habe ich keine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen - und ich bin froh darüber. Diese Woche war die beste des gesamten Jahres, auch einiger aufmunternder Kommentare wegen. Danke dafür!

Donnerstag, 29. November 2012

Moralisieren

Wenn wir von jemandem sagen, dass er moralisiere, kritisieren wir ihn in der Regel. Diese Kritik ließe sich vielleicht so explizieren: Er weist eine Handlung als moralisch relevant aus, die es nicht ist. Das Feld, das wir ohne jeden bösen Gedanken betreten, betritt er aus uns unersichtlichen Gründen nicht: Er bleibt an einer Grenze stehen, die wir ohne weiteres überschreiten, ja womöglich nicht einmal wahrnehmen.

Wer moralisiert, so der Vorwurf, vermischt die Argumentationsebenen. Denn er argumentiert so, als ob es eine Moral gebe, die er unbedingt wahren müsste. Es ist jedoch keine Moral, die ihm vorschriebe, so oder so zu handeln, sondern er ist, aus welchen Gründen auch immer, nicht bereit, etwas zu tun, mit dem andere keine Probleme haben.

Der Moralisierende tut so, als habe er das Allgemeine auf seiner Seite, um nicht als besonderer Einzelner für sich sprechen zu müssen. Ihm dient die Moral als Schutzmantel. "Das tut man nicht", heißt es dann beispielsweise, nicht aber: "Ich tue das nicht". Das unpersönliche Man soll anzeigen, dass hier etwas überindividuell Relevantes ausgesprochen wird. Wer moralisiert, will zu verstehen geben, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dasteht. Wir sind nicht so rational, dass es uns gleichgültig wäre, wenn eine offenbar falsche Meinung viele Anhänger findet. Die Anzahl dieser Menschen allein schon, und sei sie nur eine imaginierte, wird ausreichen, um uns zu beunruhigen. Es ist unangenehm, die Minderheitsmeinung zu vertreten, erst recht, wenn diese Minderheit nur eine einzige Person umfasst - mit dieser immer möglichen Beunruhigung arbeitet der Moralisierende.

Dass wir nicht umhin kommen, etwas dem Moralisieren Verwandtes zu praktizieren, darf allerdings nicht übersehen werden. Zum einen können wir durch rationales Argumentieren jemanden davon überzeugen, dass das, was wir wollen, auch er aus guten Gründen wollen kann. Diese Gründe sind nie individuell oder privat, sondern für jeden einigermaßen wachen Menschen nachvollziehbar. Wenn es uns nicht gelingt, für etwas rational zu argumentieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere persönlichen Befindlichkeiten, Interessen, Gedanken etc. als solche auszuweisen, etwa mit Satzeröffnungen wie "Ich denke, dass" oder "Ich fühle mich unwohl, weil". Jeder Mensch ist anders - die Vorstellung einer allgemeinen Moral täuscht über diese banalste aller Weisheiten hinweg, so dass diese von Zeit zu Zeit als waschechte Erkenntnis ihr Comeback feiern darf. Wenn ich als Individuum wahrgenommen werden will, muss ich als Individuum auftreten. Ich kann nicht bei der Moral Unterschlupf suchen, um mit ihrer Hilfe zu erstreiten, was ich nur allein - in der Interaktion mit anderen - realisieren kann.

Wie unangebracht uns das Verhalten eines moralisierenden Menschen auch erscheinen mag, eines sollte man ihm zugestehen, nämlich dass er die Einsicht, dass wir leidensfähige und verletzliche Wesen sind, ernst nimmt. Wer moralisiert, verwechselt sich nicht mit einem bloß autonomen Wesen, das die Bedingungen seines eigenen Lebens ausblendet. Die amoralische Attitüde ist ein Oberflächenphänomen.

Montag, 26. November 2012

Einfach mal

Einfach mal Foucault vergessen und ein Subjekt im klassischen Sinne des Wortes sein, ohne bereits im nächsten Augenblick wieder auf die Bedingung der Möglichkeit des Subjektseins zu reflektieren, einfach mal eine Drecksau sein, die sich über Mills Ausspruch, dass es besser sei, ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein zu sein, grunzend ergötzt, einfach mal mit dem Selbstdenken ernstmachen und keinen Schwanz mehr über sich anerkennen, um am Ende des Tages ganz allein dazustehen, als Verbannter, Verfluchter - nur um sich einer Dankbarkeit zu erfreuen, die größer ist als alles Leid und Elend dieser Erde zusammengerechnet, eine Dankbarkeit, die so groß ist, dass man beinahe schon an einen Gott glauben muss, nur um sich ihrer irgendwie entledigen zu können, einfach mal versuchen, wie ein antiker Philosoph zu leben und die Weisheit lieben lernen, sie nicht bloß nackt auf den Tischen tanzen sehen wollen, einfach mal nicht die letzten Regungen der eigenen Seele zu zergliedern suchen, sondern sich als ein Rätsel ansehen, für dessen Lösung ein einziges Menschenleben kaum ausreicht, einfach mal die Flügel ausbreiten und sich, tollwütig vor Vertrauen und Wahn, in den Abgrund stürzen, einfach mal auf das scheißen, was die sogenannte Gesellschaft von einem erwartet, um mit Stirner auszurufen: Ich bin der wahre Mensch! Einfach mal wissenschaftlich arbeiten, sich mal wirklich hinsetzen und sich Mühe geben, nur um zu schauen, wie lange man sein Lachen zurückhalten kann, einfach mal ein dreckiges Lächeln ins Herz der Bestie tragen, um den Engeln ihren Humor zu beweisen, einfach mal mehr halten als man versprochen hat, sich nicht mehr zurückhalten, sondern ausbrechen, explodieren, den Tod nicht fürchten, sondern ihn leben, als Feuerwerk hochgehen und  die Nächte erhellen, sich einfach mal verschwenden und verausgaben in dem Bewusstsein, dass es für den Arsch ist, den Arsch der Welt, alles rauslassen, rausschreien, bis man sich ganz hingegeben hat, bis die unendliche Geheimnislosigkeit und mit dieser das Mysterium dieser Welt offen daliegt, sich einfach mal sicher sein, dass man es schaffen wird, obwohl man nicht einmal ansatzweise weiß, was das eigentlich heißen soll.

Dienstag, 20. November 2012

Delphins Nacht

"Ob ich mit Menschen oder Fischen rede, es läuft für mich auf das Gleiche hinaus. Warum begnügen wir uns damit, einander so wenig zu sein, etwas so verachtenswert Nichtiges?!" Das waren die letzten Sätze, die Delphin ihrem Therapeuten gesagt hatte, bevor er die Sitzung abbrach. Eigentlich, heißt es, hätten schizoide Menschen große Probleme damit, Fremden in die Augen zu sehen. Anders Delphin: Sie schaute Doktor Kumzik nicht nur in die Augen; weder blinzelte sie noch wandte sie je ihren Blick von dem Mann ab, den sie liebevoll als Qualle zu bezeichnen pflegte. Zu mehr als Herablassungen dieser Art war sie jedoch unfähig; ihre Liebe, sagte sie einmal, sei ein zu starkes und leidenschaftliches Gefühl, als das sie es an Meerestiere verschwenden könnte. Außerdem bezweifelte sie, dass die Liebe ihrer hypersensiblen, selbst für die kleinsten Erschütterungen überaus empfänglichen Seele keinen Schaden zufügen würde. Kumzik benötigte, angesichts solcher Aussagen, die aus einem Lehrbuch der Psychologie stammen könnten, nicht lange, um sich seiner Diagnose sicher zu sein: Narzisstisch-schizoide Persönlichkeitsstörung, nuschelte er in seinen Bart. Was er nicht wusste: Delphin, die selbst drei Semester Psychologie studiert hatte, rezitierte Sätze, die sie in diversen Werken zusammengelesen hatte. Ganze Sitzungen hindurch tat sie nichts anderes, als markante Aussagen zu memorieren, um die Qualle genau zu der Diagnose hinzuführen, die sie von ihr hören wollte. Wenn sie nicht merken würde, dachte Delphin, dass ich sie täusche, hat sie auch nicht das Recht, mich zu therapieren und mein Innerstes kennenzulernen.

Am liebsten hätte sie sich einfach in ihrer Wohnung eingeschlossen, und zwar für immer. Sie hätte gelesen, geschrieben, auf dem Bösendorfer phantasiert und, bei anbrechender Dämmerung, sogar aus dem Fenster gesehen. "Das macht mich glücklich", hatte sie ihren Eltern immer wieder weißzumachen versucht - ohne Erfolg. "Wir sind nicht dazu da, um dich durchzufüttern", hatte ihre Mutter gesagt. Da Delphin selbst der kleinste Streit physische Schmerzen verursachte, lenkte sie schnell ein.

Nie hatte sie sich unwohler als in Gegenwart Doktor Kumziks gefühlt. Er war kein Balzac, kein Nabakov, niemand, der ihr etwas Wahrhaftiges hätte sagen können, niemand, der ihr das Gefühl gegeben hätte, irgendetwas gewusst oder empfunden zu haben, was sie nicht viel deutlicher gesehen und viel tiefer empfunden hätte. Jedes seiner Worte empfand Delphin als Beleidigung, als hemmungslos-rücksichtslos ausgesprochener Angriff eines mittelmäßigen Menschen, der das Geheimnis ihres Glücks nicht zu erraten vermochte. Sie fragte sich, ob es ihr gekränkter Narzissmus sei, der ihr keine andere Wahl ließ, als so über ihn abzuurteilen. "Kann ich jemand sein wollen, der keine Wahl hat?" Sie stellte sich diese Frage, jedoch ohne ihr gewachsen zu sein. Noch.

Abends dann schaute sie aus dem Fenster und beobachtete einige Kinder, die mit einer Trinkflasche Fußball spielten. Nur verstohlen lugte sie heraus, um nicht gesehen zu werden. Sie hätte es nicht lange ertragen, die Blicke dieser lebenslustigen Wesen auf sich lasten zu fühlen. Endlich, als die Kinder verschwunden waren, schob sie den Sessel an das Fenster, um sich, eine wärmende Decke über ihren Schoß gebreitet, in die Schönheiten des Sternenhimmels zu vertiefen. Der bestirnte Himmel über mir, meinte sie zu denken. Aber sie zitierte bloß. Wie so oft. Mit gleichgültigem Gesicht sah sie in die Nacht hinaus. Wohin war der Zauber dieses größten, allumfänglichsten Schattens geflohen, der in ihr einst das Gefühl des Erhabenen entfacht hatte? Das Gefühl, eins zu sein mit dem Kosmos - in welchen Winkel ihres Gehirns hatte es sich verkrochen?

Hatte sie Doktor Kumzik nicht souverän im Griff gehabt und jede seiner Aussagen meisterhaft gekontert? Hatte sie nicht mit nahezu wissenschaftlicher Strenge bewiesen, dass er nur eine Qualle war. Hatte sie ihn nicht in so viele sokratische Dialoge hineingezogen, die immer wieder nur eines bewiesen hatten, nämlich die bodenlose Unfähigkeit dieses Therapeuten? Fühlte sie sich nicht jedesmal gestärkt und in ihren Überzeugungen gefestigt, wenn sie aus einer seiner Sitzung herauskam? Delphin hörte auf, ihre Blicke in das Nichts der Nacht zu senden und wandte sich zu ihrem Bett. Erste Tränen liefen ihr über die Wangen, die ersten seit Monaten. Von ihrem Kissen schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszugehen. Sie stürzte sich in dieses Kissen ... um zu sterben ... um zu leben ...

Montag, 19. November 2012

Der ewige Anfang

Man kann sich auch selbst betäuben, einschläfern, gerade mit Philosophie. Die wirklich radikalen Gedanken sind jene, die uns zum Handeln zwingen, also dazu, Charakter zu zeigen.

Philosophen sind nicht Menschen, die Philosophien produzieren. Diese Auffassung kann nur dort gedeihen, wo man die Philosophie mit einer wissenschaftlichen Disziplin verwechselt. Um zu überdauern, wie man sagt, muss man Werke hinterlassen; aber Werke zu hinterlassen kann niemals der letzte Grund des Denkens sein, weil der letzte Grund des Denkens immer wieder nur das Leben ist ...

Wie kann es sein, dass ein Mensch jahrelang gegen seine wahren Bedürfnisse anstreitet? Gibt es denn wahre Bedürfnisse? Siehst du, wie ich mit dieser Frage schon wieder jenen Nebel der Konfusion erzeuge, durch den ich mich als sogenannter denkender Mensch davonmachen kann? Auf diese Weise wird die schmerzliche Ahnung, falsch zu leben, einfach niedergezweifelt und marginalisiert, bis nichts mehr von ihr bleibt als ein Grund, höhnisch zu lachen - Ist das etwa Philosophie?

Frage dich nicht, was du gedacht, sondern was du getan hast. "Aber was soll das heißen?", höre ich dich schon wieder fragen. Du fragst nicht, weil dir etwas unklar geblieben wäre, sondern weil dich die Klarheit und Grelle des Gedachten verwirrt hat.

Wer den starken Mann spielt, muss sich nicht wundern, wenn er wie ein starker Mann behandelt wird, nämlich wie jemand, der eigentlich nicht stark ist.

Du machst einem Menschen Hoffnung, so als ob du ihm viel Glück für eine lange Reise wünschtest. Aber bist du Mensch genug, um selbst Ziel einer solchen Reise zu sein?

Nur das Schlechte kann zur Gewohnheit werden, weil das Gute Mut, Konzentration und Ehrlichkeit, mit einem Wort: Bewusstsein verlangt.
  

Freitag, 16. November 2012

Die Krise des Bösen

Ich bin ein Mensch, der Gründe braucht, um leben zu können. Dieses Leben ist nicht durch sich selbst gerechtfertigt, ich muss ihm irgendeinen Metatext unterlegen, der es mit dem Blut der Bedeutung versorgt. Zu dem selbstgefälligen "Ich stehe hier, ich kann nicht anders", das aus den Augen einer zufriedenen Kuh spricht, die auf einer Wiese rumlümmelt, bin ich nicht fähig. Leider sind mir in den letzten Monaten die Gründe ausgegangen, so dass ich ziemlich auf dem Zahnfleisch krieche.

"Geben Sie mir eine Tüte mit neuen Gründen!", fordere ich den Dämon mit dem Stierkopf und dem viel zu engen Anzug auf. Er sitzt der Agentur zur Durchsetzung des bösen Prinzips auf der Erde vor und wird vom Satan selbst finanziert (in der Hölle arbeitet niemand ehrenamtlich). "Wie? Aber Sie haben doch erst vor einem halben Jahr neue Gründe zugeteilt bekommen!"

"Was kann ich denn dafür, wenn die Gelehrten der Unterwelt zu dumm sind, um etwas zu ersinnen, das einen Geist wie den meinen über einen längeren Zeitraum hinweg zu stimulieren vermöchte. Dabei haben doch gerade sie als böse Geister die Möglichkeit, wirklich alles zu denken, ich meine, welche Grenze gäbe es, die sie zu achten hätten? Welche Hemmung, die sie zurückhielte?"

"Unsere Gelehrten arbeiten Teilzeit. Viele wissen nicht einmal, wie sie ihre Familien anständig verderben sollen, so wenig verdienen sie. Seit der Glaube an die diabolischen Mächte weltweit zurückgegangen und mancherorts sogar vollkommen eingeschlafen ist, haben wir hier unten mit großen Liquiditätsproblemen zu kämpfen.  Die Kassen sind einfach leer."

"Dann können sie Ihren Laden ja zusperren. Das Böse scheint auch nicht mehr das zu sein, was es einmal war!"

"Halten Sie sich bitte zurück, junger Mann! Auch ich arbeite nur auf Stütze. Denken Sie etwa, ich trüge diesen fürchterlichen Anzug, wenn ich mir einen besseren leisten könnte?"

Das Telefon klingelt. Nach einer ebenso kurzen wie heftigen Unterredung mit seinem Boss erhebt sich der Dämon von seinem Stuhl, um nach einer Tüte mit guten Gründen zu suchen. Jetzt scheint auch ihm bewusst geworden zu sein, wer ich eigentlich bin. Ich bin die letzte Hoffnung des bösen Prinzips auf der Erde. Oder richtiger gesagt: Ich war die letzte Hoffnung dieses Prinzips. Der Dämon versucht noch hastig, mir die Tüte in die Hand zu drücken. Doch es ist zu spät. Ein so lascher Klub ist nichts für mich.

Ich werde mir meine Gründe anderswo suchen. Aber brauche ich überhaupt Gründe um zu leben? Vielleicht sollte ich bei den Kühen in die Schule gehen.

Mittwoch, 14. November 2012

Nietzsches Schweigen

 [...] noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie: es scheint mir so töricht, recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Wertvollstes nicht mitteilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. (Nietzsche in einem Brief an Peter Gast vom 20. August 1880)

Warum denkt man Gedanken, von denen man, schon während man sie denkt, genau weiß, dass man sie niemals jemandem wird anvertrauen können? Wozu könnten sie dienen? Zur Selbstvergewisserung? Aber was hätte man davon, sich eines Selbsts im Geheimen zu vergewissern? Marx hätte sicherlich keine Probleme damit gehabt, sich mitzuteilen, weil er von etwas überzeugt war, für das er ohne Wenn und Aber kämpfen konnte: für die Selbstbefreiung des Menschen. Für ein solches Ziel braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Der emanzipatorische Grundimpuls dieses Denkens, dem das Insistieren auf Verwirklichung immanent ist, hat die Menschen vieler Generationen inspiriert und zu Taten animiert.

Anders verhält es sich mit Nietzsche, der mit Aristoteles davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die bloß zum Dienen geboren sind. Ihr einziger Zweck bestehe darin, die Entstehung eines höheren Typus, heiße er Genie, freier Geist oder Übermensch, durch ihren Sklavendienst zu ermöglichen. Wie sollte jemand, der in seinem Denken so strikt und unversöhnlich zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen menschlichen Seins unterscheidet, keine Probleme bekommen, wenn er sich mit Fremden unterhält? Das Traumbild, das ihm vorschwebte, fand er nirgends verwirklicht; nicht einmal Wagner, an dem er den symbolischen Vatermord meinte begehen zu müssen, ließ er gelten. Folglich hätte er jedem ins Gesicht sagen können: Sie sind nicht der, den ich suche. Das wäre die unfassbar unbefriedigende Konsequenz aus diesem Denken gewesen.

Montag, 12. November 2012

Das geflügelte Tier

Ich lebe jeden Tag, als ob es mein letzter wäre, nämlich mit einem ziemlich beschissenen Gefühl in der Magengegend. Nein, Ernst beiseite ... Phantasieren, Fabulieren, Unsinn erzählen, Rumalbern, Rumphilosophieren, unvermittelt böse Bemerkungen einstreuen, nackte Frauen mit spitzen Bleistiften zeichnen, wilde perverse Geschichtchen schreiben ... Sind dies lediglich verschiedene Weisen, der Realität auszuweichen? Kindereien eines unreifen, eines unfertigen Charakters? Ich denke nicht. Wenn ich mich solchen scheinbaren Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten hingebe, fühle ich mich gut, beinahe glücklich ... Wer in der Phantasie lebt, wird als Phantast, als Realitätsflüchtling gescholten; ich denke jedoch, dass wir, wann immer wir Glück empfinden, dies immer auch deshalb tun, weil wir nicht mit aller Schärfe unseres Verstandes zwischen dem unterscheiden, was ist, und dem, was wir uns nur vorstellen. Nichts könnte grausamer sein, als auf ewig in dem engen Kreis des Wirklichen gefangen zu sein. Der Mensch ist ein geflügeltes Tier.

Was würden die Menschen in der besten aller möglichen Welten tun? Ich denke, dass sie nichts anderes tun würden, als was sie schon jetzt tun. Lesen, lernen, schreiben, fotografieren, musizieren, philosophieren - doch mit einem Unterschied: Sie würden sich diesen Tätigkeiten ohne schlechtes Gewissen hingeben können, weil sie wüssten, dass auch alle anderen die Möglichkeit hätten, sich selbst durch sie zu entdecken. Die Arbeit würde endlich aufgehört haben, wie ein Fluch über dem Leben zu liegen. Der Neid des Arbeitenden auf den geistigen Nichtsnutz wäre wie weggeflogen, wie auch das Überflüssigkeitsgefühl verschwunden wäre, das den Nichtsnutz plagt. Man würde aufhören, auf den Elfenbeinturm zu schimpfen, sondern ihn mit Girlanden, Lametta und duftenden Blumen verzieren, denn es gäbe wirklich nichts Wichtigeres auf der Welt mehr, als über diese Welt nachzudenken.

Freitag, 9. November 2012

Die Wahrheit sagen

Nur du weißt es. Niemand schöpft Verdacht. Wenn du nicht darüber redest, wird es niemals zum Thema werden. Es wird einzig darauf ankommen, ob es dir gelingt, nicht darüber zu reden. Noch einmal: Niemanden interessiert e. Aber du weißt es. Kannst du dich in anderer Leute Ahnungslosigkeit hineinfinden, obwohl du bis in dein Innerstes hinein von einer Wahrheit zerfressen bist, die du mit niemandem teilen kannst?

Der schlechte Mensch ist ein Mensch, der Geheimnisse hat. Er wagt es nicht, die Wahrheit über sich auszusprechen, weil er glaubt, in den Augen anderer dadurch zu verlieren. Mit anderen Worten: Er rechnet fest damit, nicht verstanden zu werden. Die Schlechtigkeit nimmt dort ihren Anfang, wo sich jemand missverstanden fühlt und sich mit diesem Missverstandenwerden arrangiert. Damit ist der Bruch zwischen ihm und den anderen perfekt. Geheimnisse beginnen im Dunkel der Angst zu sprießen.

"Nichts Menschliches ist mir fremd." Es lebt vermutlich niemand, der diesen Satz aussprechen könnte, ohne zu lügen. Vielmehr drückt er eine Utopie aus, die Utopie eines universellen Verstehens alles Menschlichen. Im Geist eines Menschen, der zu einem derartig umfassenden Verstehen fähig wäre, würden sich die Geheimnisse einfach auflösen, weil er sie zu gut verstände, um noch an sie glauben zu können. Der schlechte Mensch missversteht sich selbst. Eben dieses Missverstehen ist das Geheimnis. Wenn sich ein Mensch ganz dem Verstehensprozess öffnet, hört er auf, schlecht zu sein.

Nimm ein Blatt Papier und schreibe jene Dinge über dich auf, die du nicht einmal deinem besten Freund erzählen würdest. Es dürfte dir ziemlich schwer fallen, dich nicht zurückzuhalten, das in Worte zu fassen, was du dir sonst nicht einmal vorzustellen wagst. Die menschliche Utopie wäre zu ihrem Sieg, sprich: zu ihrer Verwirklichung gelangt, wenn jemand dieses Blatt fände und läse, ohne eine Hetzjagd gegen dich zu eröffnen. Das eben ist Gnade: Alles sagen zu können, ohne etwas befürchten zu müssen. Es ist kein Zufall, dass der christliche Gott der Liebe zugleich als allwissender Gott gedacht worden ist.

Mittwoch, 7. November 2012

Normalität

Normalität ist das Ideal der Mittelmäßigen (Jung). Ich halte es für sehr wichtig, diesen Satz immer wieder zu wiederholen, um auch den Schmerz immer wieder neu entstehen zu lassen, den er in den Herzen so vieler Menschen verursacht. Denn dies ist der Schmerz, aus dem Erkenntnis geboren wird. Diese Operation kann nur ohne Narkose gelingen.

Wer von sich sagt, dass er nur ein normaler Mensch sei, sagt: Von mir geht keinerlei Gefahr für eure zahmen Haustierseelen aus, weil ich selbst eine zahme Haustierseele bin. Seine oft schon zur mechanischen Denkgewohnheit erstarrte Orientierung am Normalen, Gewöhnlichen und ohne jede Phantasie Vorhersehbaren verunmöglicht es dem Menschen, zu seinen wahren Kräften vorzustoßen. So bleibt er zeitlebens eine halbherzig hingekritzelte Andeutung dessen, was er hätte werden können. Er begnügt sich damit, das Beispiel eines normalen Menschen abzugeben, weil ihn die Vorstellung, dass er ein anderes Menschsein leben könnte, ängstigt.

Unter hundert Menschen wird man nicht einen finden, der gänzlich normal wäre. Stattdessen wird man die Bekanntschaft mit hundert vollkommen unterschiedlichen Individualitäten gemacht haben. Vielleicht könnte man "normal" mit "unspezifiziert" gleichsetzen. Die Idee der Normalität muss sich jedoch in einer konkreten Individualität verkörpern, damit die Rede von einem normalen Menschen überhaupt Sinn machen kann. Menschen existieren jedoch ausschließlich als spezifizierte Wesen - und können schon deshalb niemals nur normal sein. "Finde dich endlich damit ab, dass du etwas Besonderes bist", sollte man jedem zurufen, der für sich ein Höchstmaß an Eigenschaftslosigkeit anstrebt.

Sonntag, 4. November 2012

Der Regen wird stärker

Hörst du, wie der Regen gegen die Scheiben prasselt? Verstehst du, was er sagen will?

Wieso sind wir als Menschen auf diese Welt gekommen? Warum nicht als Viren, Gras oder Stechmücken? Wäre uns nicht ein süßeres und im Grunde auch glücklicheres Dasein beschieden gewesen? Was hat sich die Natur dabei gedacht, als sie uns ausgerechnet Menschen hat werden lassen? Hättest du die Katze, die du vielleicht gerade in diesem Augenblick streichelst, nicht selber sein können? Ist Menschsein ein Zufall? Eine Strafe? Oder sind wir hier, um unsere Bestimmung herauszufinden, selbst wenn sich im Verlaufe unserer Forschungen herausstellen sollte, dass es überhaupt keine menschliche Bestimmung gibt?

Der Regen wird stärker.

Aber warum sollte mich mein Menschsein überhaupt etwas angehen? Ich wollte nicht als Mensch geboren werden. Du siehst: Der Lebenswille in mir, der sich auf so vielfältige Weise hätte manifestieren können, hat sich nie ganz damit abgefunden, als wenig behaartes, auf zwei Beinen laufendes Gorilla-Bonobo-Mischwesen existieren zu müssen. Ich bin eifersüchtig auf die Tiere. Sie müssen irgendetwas richtig gemacht haben, was ich falsch gemacht habe.

Hast du schon einmal so gedacht? Hast du dich schon einmal gefragt, ob es da draußen jemanden geben könnte, der auch so denkt? Der so gebrochen empfindet?
   

Montag, 29. Oktober 2012

Heiße Luft

Platons Höhlengleichnis zieht seine suggestive Kraft aus der Vorstellung, dass es so etwas wie wahres Wissen gebe. Der Freigelassene schaut mit schmerzenden Augen in das Licht der Sonne, die die Wahrheit symbolisiert, während seine Gefährten nach wie vor gefangen in der Höhle sitzen und die Schatten, die man vor ihnen vorüberspielen lässt, mit dem Sein der Dinge verwechseln. Die Metaphorik der Aufklärung funktioniert ähnlich. Lange herrschte die Nacht, das "dunkle Mittelalter", doch jetzt suchen sich die ersten Sonnenstrahlen einer neuen, einer lichteren Zeit ihren Weg durch das Dunkel.
 
Für einen Skeptiker sind diese Gleichnisse und Metaphern natürlich höchst problematisch. Denn er glaubt nicht, dass sich eine absolute Wahrheit ausmachen lässt - und damit kann er auch nicht publikumswirksam zwischen dem Licht der Sonne und den Schatten der Höhle unterscheiden. Er ist strukturell derjenige, der die Dramaturgie durcheinanderbringt, die ohne das Pathos der Wahrheit nicht denkbar ist. Seine Nacht wird niemals einer Morgenröte weichen, eben weil er keine Nacht kennt, sondern bloß einen Nebel, in dem eines so gut wie das andere ist. Er will niemanden aus der Höhle befreien, weil es für ihn keine Höhle gibt. Gleichzeitig ist er eine zutiefst humane Figur, weil in seinem Denken weder Hierarchisierungen noch Elitenbildungen auf der Grundlage von Wissen möglich sind. Ein Skeptiker kann vieles, aber eines gewiss nicht: sich auf sein Denken etwas einbilden. Er produziert eben nur heiße Luft. Dass er dies weiß und trotzdem lächeln kann, macht seine subversive Menschlichkeit aus.

Dienstag, 23. Oktober 2012

Präge die Münzen um!

Diogenes von Sinope im Gespräch mit einer Hetäre

Jenes Orakel von Delphi, das Sokrates einen narzisstischen Bärendienst erwiesen hatte, indem es ihn zum weisesten aller Menschen erklärte, sollte auch für einen anderen, mir näher verwandten Geist eine Botschaft bereit halten. So riet es dem Kyniker Diogenes, die Münzen umzuprägen. Münzen umprägen? Ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, in diesem Rat nicht sofort eine Metapher herauszulesen, wohl auch deshalb, weil es noch einen anderen Denker gibt, bei dem das Motiv der Umprägung eine zentrale Rolle spielt.

Nietzsche wird jene Anekdote gekannt haben. Die Darstellung des Diogenes Laertius über das Leben berühmter Philosophen, die sie überliefert, hat ihn sehr interessiert und beeinflusst. Er selbst sollte bekanntlich nicht von Umprägung, sondern von Umwertung sprechen, genauer: von der "Umwerthung aller Werthe". Auch bei ihm spielt, ähnlich wie bei Diogenes, "der Skandal der Wahrheit" (Foucault) eine große Rolle; er will schockieren, will den Menschen zeigen, dass die im Umlauf befindlichen Werte längst abgegriffen und abgeliebt sind. Zu seinem Pathos gehört natürlich, dass er der Einzige ist, der das erkennt.

Aber Nietzsche war nicht radikal genug. Wer Münzen und Werte umzuprägen gedenkt, bleibt ganz diesseits von Gut und Böse; er wechselt lediglich die Vorzeichen aus.

The irony of posthumous life! Man achte auf die elitär niedrige Auflage von 500 Stück ;)

Montag, 22. Oktober 2012

Die Reinkarnation der Vorurteile

Sobald ein Mensch zu denken angefangen hat, werden die Normalität und die Selbstverständlichkeit die ersten Opfer seines Denkens sein. Diese ebenso unbeweglichen wie herausgeputzten Kinder des Vorurteils vermögen sich nicht zu wehren oder zu verteidigen; der Verstand mobbt und piesackt sie, bis es sie es endlich satt haben, zu existieren. "Wie wenig Theorie und Bosheit doch nötig war, um die Gespenster zu verscheuchen!", so wundert sich der Mensch über seine jungen, gerade erst erwachten Kräfte und die klaffenden Wunden, die sie der Realität zugefügt haben. "Es ist vorbei!" Normalität und Selbstverständlichkeit nehmen vor seinen Augen den giftigen Trunk zu sich; sie geben sich geschlagen. Für immer? Was ist das für ein hintergründiges Lächeln auf ihren Gesichtern? Über welch verborgene Weisheit verfügen sie, die der Denkende nicht einmal dunkel zu ahnen scheint? Sie sterben mit einem Lächeln, so als wollten sie sagen: "So wie wir jetzt sind, können wir dir nichts mehr anhaben. Darum räumen wir das Feld. Doch wisse: Wir werden wiederkommen, in anderer Erscheinung, gehüllt in andere, fremdere, lockendere Worte. Du wirst uns nicht wiedererkennen; zu süß und zu unbekannt werden wir dir auf der Zunge liegen. Und wisse: Du wirst uns dienen, und zwar gern und von Herzen!"

"Nein, ihr seid vernichtet!", schreit der Mensch die Sterbenden an, deren letzte Zuckungen ihn innerlich aufwühlen. Auf ihren toten Gesichtern hat das Lächeln überlebt, das ihn so beunruhigt. "Es ist vorbei!", sagt er noch einmal, als könnte er diese Aussage durch ihre Wiederholung wahr machen. Er fühlt sich bis in seine innerste Existenz hinein gekitzelt, ohne jedoch lachen zu können, weil er sich bewusst ist, das Objekt dieses Lachens gewesen zu sein.

Samstag, 20. Oktober 2012

Die Vorzüge der Religion

Religiös zu sein bedeutet, eine Macht anzuerkennen, die größer ist als man selbst. Das lateinische religio lässt sich mit "Zurückbindung" übersetzen. Der religiöse Mensch erkennt nicht nur an, dass es eine Macht gibt, die seine Kräfte übersteigt, sondern er nimmt auch an, dass ihm diese Macht gewogen sein und dass er sich deshalb an sie zurückbinden könne.

Der Mensch, als das Stiefkind der Natur, wird, solange es ihn gibt, seinen Traum von der irdischen Heimat weiterträumen. Auch wenn das Leben ihn schrecken und ängstigen mag, wird er doch niemals freiwillig sich davon abbringen lassen, diese Welt zu der seinigen zu erklären. Lieber noch wird er aus ihrem Schweigen die unergründliche Weisheit einer höheren Macht herauslesen, als sich einzugestehen, dass er nur zu seinem eigenen Herzen spricht. Indem er religiös wird, fühlt er den Herr der Welten (oder sonst jemand) in seinem Rücken und fühlt sich zu Hause, wohin immer es ihn auch verschlägt, denn er weiß: "Der, auf den es wirklich ankommt, ist auf meiner Seite. Mir kann nichts geschehen."

Während der Atheist verzweifelt darüber nachdenkt, wie er seine Miete bezahlen soll, geht der religiöse Mensch ruhig seinen Gang. Er fürchtet sich nicht vor dem, was kommen wird, denn er weiß: "Ich habe die Ewigkeit auf meiner Seite. Mein Glaube weist nicht nur über den springenden Augenblick, sondern über das Ende der Zeit selbst hinaus." Nichts kann den religiösen Menschen ernstlich treffen, solange er nur Freiheit genug hat, sich tröstende Gedanken zu machen. Allem kann er mit größter Gelassenheit entgegensehen.

Der religiöse Mensch denkt seine Existenz vor allem von der Macht her, an die er sich rückbindet. Damit stellen sich für ihn viele Fragen nicht, die dem metaphysisch Obdachlosen das Leben zur Hölle machen. "Ich bin eben so, wie Gott mich haben wollte. Mein Leben ist ein Geschenk Gottes, für das ich unendlich dankbar bin." Daran ist etwas Wahres, denn soweit wir wissen, liegt im Grunde nur sehr wenig in unserer Hand. Wir entscheiden nicht darüber, als was wir geboren werden, ob als Mensch oder Gras. Wir suchen uns unsere Eltern nicht selbst aus. Unsere Eigenschaften können wir veredeln und unsere Fähigkeiten bestmöglich entwickeln, aber wir können nicht frei wählen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten uns auszeichnen werden.

Muss sich ein aufgeklärter Mensch, der auf sein Selbstdenken stolz ist, angesichts dieser Vorzüge der Religion nicht fragen, ob er etwas falsch gemacht habe?

Sonntag, 14. Oktober 2012

Der Gummifarmer

Der Gummifarmer ist überzeugt, dass diejenige Gesellschaft die aufgeklärteste ist, in der am meisten rumgenölt wird. Das Glück könne nicht das Kriterium der aufgeklärtesten Gesellschaft abgeben, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, weil es keinen Konsens darüber geben könne, was es mit dem Glück eigentlich auf sich habe. Und wolle man sich darüber verständigen, sei der Keim des Rumnölens bereits gelegt. Wo man das Glück ernst nehme, werde über das Glück genölt, unausweichlich. Das kategorische Rumnölen, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, sei das einzige Prinzip, dem er sich verantwortlich fühle. Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer zur Jauchegrube, um sein Kübelchen bis zum Rand mit Scheiße zu füllen. Der Hahn kräht. "Boah, halt die Fresse!", denkt der Gummifarmer, der sein Kübelchen abstellt, um noch einmal zur Scheune zu eilen. Er hat seine Gummistiefel vergessen. Mit den Gummistiefeln an den Füßen fühlt er sich gleich viel besser. "Ich gehöre weder dem linken noch dem rechten Spektrum an", lässt er das Huhn wissen, das in einiger Entfernung gleichgültig pickt, "mein Reich ist die Schmollecke." Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer mit dem Kübelchen voller Scheiße durch das Dorf, bis er endlich beim Haus des Dorfschuhmachers angekommen ist. "Dorfschuhmacher, zeige dich! Heute tragen die Leute im Dorf Gummistiefel. Du bist abgewirtschaftet!" Der Dorfschuhmacher tritt vor seine Tür, dabei begleiten ihn seine Frau, seine zehn Kinder (fünf Männer, fünf Frauen) und seine siebzehn Enkelkinder. Auch die Lehrlinge des Schuhmachers zeigen sich; es sind insgesamt vier (einer ist betrunken). Der Äpfler und der Birner, die sich ansonsten überhaupt nicht riechen können, stehen vereinigt durch ihre Neugier am Zaun, um sich die Forderungen des Gummifarmers anzuhören. Auch ihre Frauen und Kinder glotzen aus den Fenstern der Nachbarhäuser herüber, andere strömen auf die Straße, um dem Gummifarmer aus nächster Nähe zu sehen. Nach wenigen Minuten scheint das ganze Dorf auf den Beinen zu sein.

Die Blicke des Gummifarmers und des Dorfschuhmachers kreuzen sich. Vielen kommt es vor, als ob die Erde leicht bebte, so intensiv sehen sie sich an. Endlich löst sich der Dorfschuhmacher aus dem Kreis seiner Familie und geht ruhigen Schrittes auf den Gummifarmer zu. "Tu' es nicht!", fordert er den Mann auf, der ihm herausfordernd sein bis zum Rand mit Scheiße gefülltes Kübelchen entgegenstreckt. Er tut's. Er gießt das Kübelchen ins Gebüsch am Rande jenes Weges aus, an den auch das Haus des Dorfschuhmachers grenzt.

Dienstag, 2. Oktober 2012

Zerknitterte Gesichter

Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein. (Kafka)

"Es ist eben so." Man schaue sich die Gesichter genau an, über deren Lippen diese Worte kommen. Verraten ihre Züge nicht eine geheime Wut, einen unausgesprochenen Zorn auf jene, die es wagen, einfach weiterzufragen, wo sie sich der Antwort schon sicher wähnten? Nietzsche hat den Menschen das nicht festgestellte Tier genannt. Es ist nicht festgestellt, aber es strebt danach, sich festzustellen, um endlich zu erkennen, was es sei, was es tun solle, warum es lebe. Doch jede Antwort, die es erhält, ist immer nur seine eigene; die Natur schweigt, was immer der Mensch auch in sie hineindichten mag.

Das, was wir für unseren Charakter halten, ist nicht einfach vorhanden. Vielmehr wollen wir, dass da etwas wie ein Charakter sei, damit die groben Finger unseres Verstandes etwas zum begreifen haben. Die Begierde, etwas zu sein, ist das ganze Sein. Tiefer reicht das Wasser der Identität nicht; wir können in ihm nicht ertrinken. Jeder, der "Ich bin ..." sagt, gleicht einem bequemen älteren Herrn, der sich in sein Sofa fallen lässt. "Ich bin eben der und der. Daran kannst auch du nichts ändern." Mit einer solchen Haltung mag man sich einige Zeit lang gut über Wasser halten. Sie wird einem aber spätestens dann auf den Kopf fallen, sobald man einzusehen beginnt, dass man sich eigentlich nicht ernst nehmen kann, solange man sich als etwas Nun-einmal-so-Seiendes begreift. Nur der Stein ist, was er ist, und zwar souverän und ohne zerknittertes Gesicht.

Sonntag, 30. September 2012

"Durch den Monsun"-Philosophie

Philosophie hat nichts mit Kalendersprüchen oder der kontemplativen Stille der Klösterzu tun, ja nicht einmal mit Weisheit. Philosophie ist die Streckbank der Seele. Sie versöhnt die Widersprüche nicht, sondern verschärft sie bis ins Unerträgliche. Sie ist keine Meditation, kein Gebet, keine Planerfüllung, keine Sammlung geistreicher Bonmonts. Damit ein Mensch erkenne, was das Übel sei, muss er sich dem Übel mit ganzer Seele hingeben, morden, brandschatzen, vergewaltigen. So paradox es klingen mag: Es ist sogar seine Pflicht. Es gibt nichts, dem er sich verschließen, dem er sich nicht aussetzen dürfte. Um alles verstehen zu können, muss er alles sein. Er geht nicht nur dorthin, wo es brennt; er stürzt sich ins Feuer. Nur dann, wenn aus jedem seiner Worte eine Überwindung, ein Sieg  spricht, hat er überhaupt das Recht, sich zu äußern.


Sonntag, 23. September 2012

Dieses Stöhnen

Ich dachte, dass sie sich erholt hätte und die von ihr bekundete Zufriedenheit echt wäre. Vielleicht war sie dies auch. Ich weiß nicht. Der Kleine hat schon seit drei Tagen nicht einschlaffen können, so groß ist seine Vorfreude auf den Wochenendausflug. Diese Lebenslust, das geht mir gerade durch den Kopf, wie ich hier im Bett liege und nachdenke, stärkt er sich immer nur bei mir; immer ist es unser Gelächter, das sich bis zur niveaubereinigten Albernheit hochschaukelt. Wie konnte ich das so lange übersehen? Wollte ich es nicht wahrhaben? Er sagt immer wieder, dass er seine Mutter liebe, aber wirklich Spaß hat er nur, wenn er mit mir zusammen ist. Immer sitzt sie auf der Bank, während wir spielen; sie liest ein Buch, schaut ab und zu zu uns herüber und lächelt. Aber was ist das für ein Lächeln?

Vielleicht schmerzt es sie sogar, unser Spiel mit ansehen zu müssen, scheint sie doch selbst immer mehr den Lebensmut zu verlieren. Zwar kämpft sie, bäumt sich auf, doch ohne jede Zuversicht, dass sie ihre Stimmungen jemals in den Griff bekommen könnte. Immer wird der Kleine still und nachdenklich, wenn er mit ihr in Berührung kommt, manchmal sieht es sogar so aus, als fürchte er sie. Lange sah ich das nicht und redete mir ein, dass diese Mutter-Kind-Beziehung nun einmal kompliziert sei. Aber das war sie nicht immer; sie ist es erst geworden.

Sie weiß gar nicht, wie sehr mich ihr Stöhnen trifft. Sicher ist sie sich dessen nicht bewusst, aber gerade dann, wenn ich denke, dass sich die Dingen zwischen uns zu bessern beginnen, entschlüpft ihr dieses Stöhnen, das mir augenblicklich jeden Mut aussaugt. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie die Zeichen ihrer großen Müdigkeit nicht zurückzuhalten vermag. Aber jeder Streit, ganz gleich, wie verletzend und hinterfotzig er sich auswachsen würde, wäre mir unendlich lieber, als dieses Stöhnen. Wo Streit ist, da ist noch Leben, da behauptet man sich und seine Überzeugungen versucht mit allen Mitteln, sie durchzusetzen. Sie streitet schon lange nicht mehr mit mir. Und auch mein Wille, sie zu necken und zu ärgern, ist wie weggeflogen. Ich habe nur noch Angst, ihr weh zu tun, und fürchte ihr Stöhnen über alles. Es hört sich wie ein Ausatmen an, ein letztes Ausatmen, dem kein Luftzug mehr nachfolgen wird, als ob sie ihre Seele aushauchte. Dass sich in diesem Stöhnen eine tiefschwarze Lebensphilosophie ausdrücke, ist so ein Satz, denn ich vor ein paar Wochen vielleicht noch dahergesagt hätte. Heute könnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Und ich kann mich nicht mehr ernst nehmen, wenn ich romantisiere, wo illusionslose Klarsicht Pflicht wäre.

Es sei ihr einziger Wunsch, dass wir glücklich seien - womit sie den Kleinen und mich meint -, sagt sie immer wieder, so als ob sie gar nichts zählen würde. Ich gebe ihr darauf nicht mehr zur Antwort, dass ich ihre Selbstlosigkeit schätzte, sondern fahre sie an. Um sie wachzurütteln und sie endlich aus ihrer gottverdammten Lethargie herauszureißen. Sie wird es aushalten, weil sie es ist, Gradiva, die Atmende und Vorwärtsschreitende. Sie muss es aushalten.

Der Mensch, der auf das Glück verzichtet, verfügt über die gespenstische Freiheit, alles zu denken und zu tun; er ist der geborene Relativist und Amoralist. Ich will kein solcher Mensch sein. Nicht mehr. Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt, und zwar unbedingt und ohne Abstriche. Unser Glück darf zu keiner schalen Erinnerung verkommen! Der Mensch muss es sich wert sein, nach dem Glück zu streben, das allein macht seine Würde aus - nur daraus entspringt sein Ernst und alle Weisheit, die diesen Namen verdiente.

Mittwoch, 12. September 2012

Den Ankotzpunkt finden

Woran erkennt man einen kritisch denkenden Menschen? Ganz klar: daran, dass er ziemlich vieles ziemlich scheiße findet. Scheißefinden allein genügt natürlich noch nicht. Es kommt immer auch darauf an, wie jemand etwas scheiße findet. Sagt jemand beispielsweise, dass ihn dieser ganze Kram nur noch ankotze, so ist noch nicht davon auszugehen, dass sein Scheißefinden ein kritisches Niveau erreicht hat. Man denke an einen Schüler, der voller Wut seinen Ranzen in die Ecke feuert. Er findet die Schule scheiße, sagt er selbst. Jedoch nicht darum, weil er mit der Schulpolitik seines Bundeslandes oder mit der Zusammenstellung des Lehrplans nicht einverstanden wäre, sondern weil seine Lehrerin, Frau Bitterlich, seine Vorliebe für chauvinistische Witze leider nicht teilt. Vermutlich, weil sie kritisch denkt und deshalb chauvinistische Witze, wie so vieles, ziemlich scheiße findet.

Der kritisch denkende Mensch begnügt sich nicht damit, seinen Ranzen in die Ecke zu feuern. Er weiß, warum er etwas scheiße findet. Er kennt die Zusammenhänge, die weit über den falschen Humor einer Frau Bitterlich hinausreichen. Mit zärtlichem Finger hat er sein Seelenfleisch nach dem Ankotzpunkt abgesucht, tastend, mit aller ihm möglichen Vorsicht, bis er ihn endlich gefunden hat. Die meisten finden ihren Ankotzpunkt in den gesellschaftlichen Strukturen, die Missstände und Ungerechtigkeiten produzieren. Das gilt insbesondere für die Lefties. Da es ihnen so gut wie unmöglich ist, die Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu verändern, ist ihr Scheißefinden das vielleicht beständigste überhaupt. Sie haben die besten Gründe, nicht zu lächeln.

Freitag, 7. September 2012

Religionskritik (Essay)

Für S.

Um die Religion zu kritisieren, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, dass in der Welt keine Zeichen eines göttlichen Wirkens zu finden seien. Wenn es Gott gäbe, wie es etwa einen Menschen geben kann, gäbe es vermutlich keine Religionen. Dass Gott nicht existiert, ist die Bedingung des Glaubens an Gott. Dies gilt jedoch nicht für das, was man klassisch Seele genannt hat. Für sie bestehen Dinge, die ihren Ursprung in der Erfahrung haben, ruhig neben anderen, die aus metaphysischen Träumen geboren sind. Wenn Religionskritik etwas bewirken soll, darf sie sich nicht darauf beschränken, auf die inneren Widersprüche der heiligen Schrift aufmerksam zu machen oder die Heiligkeit angeblicher Wunder zu enttarnen. Ob Jesus Blinde sehen gemacht hat oder nicht, ist ein Detail, an dem der Glaube des Gläubigen nicht hängt. Man könnte hier fragen, was wirklicher sei, die Dinge in ihrer nackten Faktizität oder die Gedanken und Empfindungen, die der Betrachter in sie hineindichtet? Die Orientierung an empirischen Fakten, von der die modernen Naturwissenschaften leben, ist nur eine, vergleichsweise junge Weise der Weltdeutung. Die Frage, welcher dieser beiden Wirklichkeiten man den Vorzug gibt, der inneren oder der äußeren, ist alles andere als entschieden. Ist die Hostie der Leib Christi oder nichts weiter als ein ungesäuertes Brot? Die Naturwissenschaften werden niemals zu dem Ergebnis kommen können, dass die Hostie der Leib Christi sei; sie sind für diese Fragen überhaupt nicht zuständig. Dies ist wohl auch der Grund, warum Diskussionen über Religion regelmäßig zu nichts als einer Vertiefung des Grabens zwischen den streitenden Parteien führen. 

Der psychologisierende Ansatz scheint mir ebenso verfehlt. Denn wer den Glauben als ungesundes, vielleicht sogar krankhaftes Verhalten wertet, muss sich dazu eines Maßstabes bedienen, der zu subjektiv und den historischen Veränderungen zu stark unterworfen ist, als dass er einen Gläubigen, der offenbarte und in Stein gemeißelte Wahrheiten auf seiner Seite hat, beeindrucken könnte. Den Satz Dostojewskis, dass ohne Gott alles erlaubt sei, deute ich wie folgt. Gott ist die Macht, die allen gleichermaßen zustößt. Deshalb können nur vor Gott alle Menschen gleich sein. Er ist jene Instanz, die unbestechlich über allen Dingen thront. So sieht es zumindest in der Theorie aus. In Wahrheit fanden sich immer Menschen und Gruppen, die sich Gott näher wähnten und deshalb mit gutem Gewissen Leid über andere brachten. So auch heute.

Wenn der göttliche Maßstab verschwindet, um auf Dostojewski zurückzukommen, verlieren die Konflikte ihren Heiligenschein: Es bleiben nur die konkreten Interessen konkreter Menschen übrig, die miteinander im Kampf liegen. Zwar gibt es nach wie vor überindividuelle Instanzen, zum Beispiel Traditionen, Gesellschaft oder Gesetze. Aber auch in diesen drücken sich nur gewisse Interessen aus. So wie man in der Natur nach Ursachen fragt, so ist man heute gewohnt, nach den Motiven hinter den menschlichen Werken zu fragen. Mit einem Wort: Nichts ist mehr heilig. Das gilt auch für die Kategorie der psychischen Gesundheit. Was noch vor wenigen Jahren als perverse Praktik gegolten hätte, dient heute als Stoff für Bestseller. Sobald sich das schlechte Gewissen aufzulösen beginnt, etwas Krankhaftes zu tun, hört auch die Krankheit auf, zu sein. Sofern sie eine bloß konstruierte, mithin ein Kind des bösen Blicks gewesen ist. 

Deshalb sollte die Religionskritik als Moralkritik ansetzen. Denn ohne eine Moral wäre die Religion bloß ein phantasievoll ausgestaltetes Konglomerat überlieferter Erzählungen für Leute, denen die Realität nicht interessant genug ist. Aber das ist sie nicht; in ihrem Namen ist gefordert, gefoltert und vernichtet worden. Die beste Möglichkeit, Religion zu kritisieren, besteht für mich darin, die Gläubigen auf die moralischen Widersprüche aufmerksam zu machen, in die sie sich verstricken. Ich präferiere also die gute alte immanente Kritik. Insbesondere gegen das Christentum als Religion der Liebe lässt sich so viel ausrichten. Leider auch hier nur der Theorie nach. Denn es ist überhaupt kein Problem, mit der Bibel gegen die Nächstenliebe oder für den Krieg zu argumentieren, wenn man sich mit dem Text einigermaßen auskennt. Aber dass über diese Dinge diskutiert wird, ist an sich bereits ein Schlag gegen den Fanatismus. Machtlos ist die Kritik nur, wo ihre Gegner sich von vornherein in Schweigen hüllen und das Gespräch mit den Ungläubigen kategorisch ablehnen.

Dienstag, 4. September 2012

Über Hegel (Essay)

Damit man etwas ablehnen kann, muss man es zuallererst verstanden haben. In Bezug auf die Philosophie Hegels ist die Ablehnung groß, doch welcher seiner Kritiker könnte schon von sich sagen, ihn wirklich verstanden zu haben? Ist die Ablehnung Hegels nicht allzu oft eine Abwehrmaßnahme, zu deuten als Zeichen einer Überforderung, deren Gründe der Kritiker nicht bei sich sucht, sondern Hegel zuschiebt? Schopenhauers Ausfälle gegen Hegel sind ebenso bekannt wie substanzlos. Es mag beizeiten ein angenehmes Gefühl sein, selbst einen anerkannt großen Geist an Hegel scheitern zu sehen. Über die philosophische Bedeutsamkeit ist damit freilich noch nichts ausgesagt.

Was ist nun dran am Hegel? Auch ich kann von mir nicht sagen, ihn verstanden zu haben, aber wer könnte das schon? Überhaupt ist der Begriff des Verstehens ein schwieriger. Niemand verfügt über einen privilegierten Zugang zu des Meisters Gedanken, niemand weiß, was Hegel genau gemeint hat. Da sind eben nur diese schwer zu lesenden Texte und eine Fülle von Interpretationen, die einem die Lektüre vorstrukturieren, ob man dies nun will oder nicht. Aber so geht es uns letztlich mit allen Texten, egal wie sicher wir uns ihres Gehalts auch wähnen mögen. Wir produzieren fortwährend Interpretationen, oft sogar bloß Interpretationen von Interpretationen. So fragen wir uns, wie die Frage, ob der Übermensch Nietzsches die Nazis inspiriert habe, in der Forschung diskutiert worden sei, interessieren uns also dafür, wie sich unsere Interpretation der nazistischen Nietzsche-Interpretation zu früheren Interpretationen der nazistischen Nietzsche-Interpretation verhält. Niemand sollte sich darüber wundern, weshalb philosophische Bibliotheken so ausufern können, ohne dass damit irgendein Fortschritt angezeigt sein müsste. 

Am besten wird noch immer sein, zu den Texten selbst zurückzukehren. Um klar zu sehen, dass auch diese Texte nicht um sich kreisen, sondern ihre Rechtfertigung außer sich haben. Sollte man zumindest meinen. In Hegels Logik kreist das Denken um sich selbst. Das reine Sein sei mit dem reinen Nichts identisch, kann man dort lesen. Aus Sein und Nichts versucht Hegel das Werden abzuleiten. Den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der seit der Antike in philosophischen Ehren stand, verwirft er. Wenn etwas ist oder nicht ist, bleibt kein Platz für ein Werden, für einen Übergang zwischen jenen beiden Bestimmungen. Es sieht so aus, als würde Hegel mit den Begriffen spielen. Dass am Ende das herauskommt, was er sich wünscht, wird niemanden überraschen.

Es ist leicht gesagt, dass man eine Philosophie aus dieser selbst heraus verstehen müsse. In der Tat ist es zum Zwecke einer fairen Beurteilung zwingend erforderlich, sich mit allem, was man hat, in das kalte Wasser einer Philosophie vorzuwagen. Was aber, wenn man dabei den Grund unter den Füßen verliert? Hegel ist das nicht, was man anschlussfähig nennt. Man kann sich von ihm keine interessanten Stücke herausschneiden und dem eigenen Denken beifügen. Hegel ist ein sehr fordernder Denker, auf den man sich einlassen muss. Viele Philosophen sind bis in ihre Sprache hinein von Hegel geprägt worden, man denke nur an die Junghegelianer mit Feuerbach, Stirner, Marx oder auch an Adorno. Es scheint, als ob das Denken dieser Männer selbst umgestülpt worden wäre. Sie alle hegeln, man könnte auch sagen: Sie haben sich einer dialektischen Denkungsweise verschrieben. Nichteingeweihte mögen ihre dialektischen Sprachformen abschrecken - oder gerade wegen der Aura des Exklusiven anziehend finden. 

Aber was hat es nun mit der Dialektik auf sich? Diese Frage kann ich - wie zu erwarten ist - nicht in wenigen Sätzen beantworten, jedoch einige Überlegungen hinstreuen. Ein Subjektphilosoph, sagen wir Kant, subjektiviert die Erkenntnis; sie ist ihm nur als Erkenntnis eines einzelnen erkennenden Menschen möglich. Das Ding an sich bleibt ihm unerkennbar. Diese transzendentale Konzeption lehnt Hegel ab; er sagt, dass das Ding an sich ein leerer Begriff sei, weil er nichts begreife. Hegel will vielmehr das gesamte Sein gedanklich erfassen, also Subjekt als auch Objekt zusammendenken. Sein Erkenntnisoptimismus ist grenzenlos:

"Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken. Und mit diesem Glauben wird nichts so spröde und hart sein, das sich ihm nicht eröffnete. Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben." (aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)

Das rein geistige Zusammendenken, das beständige Betrachten und Beziehen aller Momente aufeinander, zeichnet den Idealismus Hegels aus. Er will in seiner Logik dem Denken gewissermaßen dabei zusehen, wie es sich entwickelt und vorwärtsstrebt, ohne sich subjektiv in diesen Prozess einzumischen. Subjektphilosophen werden an dieser Stelle aufschreien. Aber es ist wirklich so: Hegel will die Trennung zwischen Ich und Welt aufheben. Dabei geht es ihm nicht nur darum, diese beiden Entitäten anders aufeinander zu beziehen, sie sollen auch eine Bewegung durchmachen, in dem sie sich beide aufheben und wiederum nicht aufheben, eben ihre idealistische Synthese im absoluten Geist finden. Dieses beständige Durchdenken aller Momente macht es so schwer, Hegel zu fassen zu bekommen. Über den orthodoxen Hegelianer Kojève, der Hegel bei den Intellektuellen Frankreichs populär machte, hieß es, er könne alles und von allem das Gegenteil beweisen. 

Bei Kant gibt es eine phänomenale und eine noumenale Welt. Auch diese Trennung akzeptiert Hegel nicht. Seine Philosophie, die sehr von Spinozas Pantheismus beeinflusst ist, anerkennt Trennungen nur als Etappen eines Prozesses, der dem Absoluten zustrebt. 

Die dialektische Methode beeindruckte die Junghegelianer um Marx, weil sie es ihnen ermöglichte, Subjekt (Proletariat) und Objekt (gesellschaftliches Sein) zusammenzudenken. Obwohl sich das allgemeine Interesse für den Hegelianismus längst abgekühlt hatte - Hegels Antipode Schopenhauer avancierte zum Modephilosophen des 19. Jahrhunderts -, entwickelten sie Hegels Methode weiter (oder vulgarisierten sie, ganz wie man will), auch wenn sie das Erbe ihres Meisters in vielem der Ironie preisgaben. Wohin politischer Monismus führen kann, hat das 20. Jahrhundert dann gezeigt. Man kann sich darüber streiten, ob der Totalitarismus in Hegels Philosophie angelegt ist oder nicht. Er selbst jedenfalls begnügte sich damit, das Bestehende, den preußischen Staat der Goethe-Zeit, zu feiern. So habe ich es jedenfalls mehrfach gelesen; auch hier stehen Nachforschungen an. 

Über die Philosophie sagt Hegel, dass sie ihre Zeit in Gedanken sei. Darum habe jede Zeit ihre eigene Philosophie.

"Es kann deswegen heutigentages keine Platoniker, Aristoteliker, Stoiker, Epikureer mehr geben. Sie wiedererwecken hieße, den gebildeteren, tiefer in sich gegangenen Geist auf eine frühere Stufe zurückbringen wollen." (aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie) 

Auf Hegel angewandt könnte man fragen: Kann man heute noch ein Hegelianer sein? Doch auch hier hat Hegel schon das Andere mitgedacht und festgestellt, dass alle Philosophien in ihren Prinzipien fortleben. Wenn wir uns fragen, ob uns Hegel noch etwas zu sagen habe, stellen wir genau die Frage, die Hegel immer und immer wieder gestellt hat. In diesem Sinne bleibt er ein eminent moderner Denker.

Montag, 27. August 2012

Kleine Fabel

Der Mönch fegte den Hof, auf dem Languren spielten. Als er den Besen nach ihnen ausstreckte, um sie zu verscheuchen, versteckten sich die Tiere im Wald. Bis auf einen Languren, der sich eine papierne Krone aufgesetzt hatte und mitten auf dem Hof dalag, als ob ihm das Land gehörte.

Aus müde blinzelnden Augen sah er den Mönch auf sich zukommen. „Geh bitte aus dem Weg, damit ich fegen kann“, sagte der Mönch.
„Ich denke gar nicht daran“, erwiderte der Langur.
„Wenn du übermüdet bist oder auf deiner Unbeweglichkeit beharrst, werde ich dich wohl wegtragen müssen.“
„Auch der Wal ist unbeweglich, sobald er einmal gestrandet ist. Aber bedenke: Er ist der König der Meere.“
„Ja“, sagte der Mönch, „aber würdest du ernstlich behaupten wollen, dass die Wale so müde im Wasser hängen wie du?“
„Sieh dir den Tiger an“, sagte der Langur, „er ist das müdeste aller Tiere. Aber was tut er, wenn er einmal wach ist? Er herrscht über den Wald, und zwar uneingeschränkt. Müdigkeit muss nichts Schlechtes sein.“
„Du redest dich heraus. Mit diesen Vorzügen hast du nichts zu tun.“
„Auch die Menschen reden sich heraus. Aber weißt du was? Sie beherrschen alles Getier, lebe es nun im Meer, im Wald oder durchziehe es den Himmel“, sagte der Langur, als wollte er dem Mönch schmeicheln.

Der jedoch fasste seinen Besen, um in dem Affen herumzustochern. Augenblicklich schnellte der Langur hoch und flüchtete zu seinen Freunden, die schon die ganze Zeit hindurch lachend zugesehen hatten.

Donnerstag, 23. August 2012

Der jüngste Morgen

Dieser Morgen sollte nicht ungesehen vorüberziehen. Wenn sie schon nicht einzuschlafen vermochte - sie hatte eine Geschichte gelesen, die so widerlich war, dass sie aus Angst vor ihren Träumen wachliegen blieb -, wollte sie wenigstens gemeinsam mit der Sonne aufstehen. Wie lange war es her, fragte sie sich, dass sie sich diesem natürlichsten aller ästhetischen Genüsse hingegeben hatte? Viel zu lange, befand sie und entschlüpfte vorsichtig, teils bedrückt über die vielen unbestaunt dahingezogenen Sonnenaufgänge, derer sie nun gewahr wurde, teils dankbar, dem jüngsten Morgen beiwohnen zu dürfen, dem Bett, in welchem ihr Freund seinen Rausch ausdelirierte. Um ihm zu sagen, dass sie sich von ihm trennen werde, musste sie ihre abgemagerte Seele mit Schönheit stärken. Sie war es leid, einen Freund zu ertragen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit in genau das verwandelt hatte, was sie am meisten hasste: in einen von denen. Nur solange unterschied er sich durch Witz, Intelligenz und Einfühlungsvermögen wohltuend von den anderen, wie er um sie geworben hatte. Es ist wie mit dem eingezogenen Bauch des Dicken, dachte sie: Irgendwann schwabbt es zurück.

Sie ging bedächtig, jeden ihrer Schritte wie eine Tänzerin ganz bewusst setzend, in den Park. Die Kühle der Nacht hing noch allen Dingen in den Kleidern, doch die ersten Sonnenstrahlen begannen schon die Umrisse des Birkenwäldchens nachzuzeichnen, das den Park umschloss. Bald würde der ganze Park in goldenem Licht leuchten, dachte sie lachend; irgendetwas musste die Dichterin in ihr hervorgekitzelt haben. Sie hielt den Arm ins junge Licht, um ihre golden glänzenden Härchen zu studieren, für die sie sonst keine Augen besaß. Als ein Jogger an ihr vorbeilief, lächelten sich die beiden zu, als wären sie in ein Geheimnis eingewoben gewesen, das der ausdelirierenden Menschheit entgehen musste.

Mittwoch, 22. August 2012

Süße Blasphemien

Nur wer zu einem Christen wie zu einem Patienten spricht, der an Halluzinationen leidet, ihn also überhaupt nicht ernst nimmt, hat eine gute Chance, von seinem Sinn nicht infiziert zu werden. Man darf den Sinn gar nicht erst aufkeimen lassen.

Ich liebe die Desillusionierung. Vielleicht muss man einmal Christ gewesen sein, um die Wonnen des Atheismus voll auskosten zu können. Denn die Religion ist keine reine Verstandesangelegenheit: sie rührt an. Im Gegensatz zu einem Gedanken, den man als falsch verwerfen und nie wieder für voll nehmen kann, ist es ausgeschlossen, nicht mehr religiös zu empfinden, nur weil einem ein Glaubenssystem suspekt geworden ist. Mit nichts, das uns einmal innerlich bewegt hat, können wir vollständig abschließen. Deshalb ist es dem Selbstgenuss viel förderlicher, etwa, anstatt sich einzureden, mit all dem metaphysischen Krimskrams abgeschlossen zu haben, sich hin und wieder hochprozentige, radikal-atheistische Aufklärungsliteratur zu gönnen. Als alter Christ, der man schließlich immer bleiben wird, darf man da lesen, dass Gott nicht existiere, es keinen Himmel gebe, die Kirche eine korrupte Einrichtung sei, intelligente Menschen tendenziell weniger religiös seien etc. Diese Lektüren sind masochistisch, aber im besten Sinne masochistisch: Es gibt wenig, das dem Vergnügen gleichkäme, den kleinen Gott in sich zu kreuzigen. Ihm zuzurufen, dass er nicht der sei, für den er sich halte. Woraufhin er wild wird, denn wer würde sich schon als vermeintlicher Weltenschöpfer auf Arbeitssuche begeben wollen? Dieser kleine Gott kommt immer wieder zu Kräften, so als wäre er Prometheus' Leber. Eigentlich ist diese Praktik nicht masochistisch, sondern sadistisch, denn ich quäle nicht mich, sondern etwas, das ich gleichsam in mir von außen betrachte. Je mehr ich mich vom Glauben befreie, das heißt, je weiter ich mich von ihm entferne, ohne ihn jemals ganz hinter die Horizontlinie meiner Gefühle hinabdrängen zu können, desto süßer werden meine Blasphemien.

Sonntag, 19. August 2012

Das Schwarze Quadrat


Man mag über Malewitschs Schwarzes Quadrat lachen. Sicherlich handelt es sich bei diesem Bild um kein Kunstwerk im üblichen Sinne. Es ist nicht klassisch schön, es sei denn, man ist Liebhaber geometrischer Formen.

"Das kann ich auch", werden viele sagen, die es sehen und nicht begreifen mögen, dass ausgerechnet dieses Bild als Ikone der Moderne gilt. Es wäre sogar leicht möglich, den Meister des Suprematismus zu übertreffen, hat sich doch herausgestellt, dass die Seiten des Quadrats unterschiedlich lang sind, es im strengen Sinne also gar kein Quadrat ist. Aber das ist nicht das Wesentliche. Ein anderer als Malewitsch hätte dieses Bild nicht malen können, nicht, weil es schwierig wäre, schwarze Quadrate zu malen, sondern weil nur jener eine Russe in jenem ausgesuchten historischen Augenblick inmitten des Ersten Weltkrieges eine genügend distinkte, von orthodoxer Metaphysik und der jungen westeuropäischen Malerei inspirierte Vorstellung von Gegenstandslosigkeit entwickelt hatte.

Groys sagt, dass die Avantgarde niemandem gefalle, worin sie sich von der Massenkultur unterscheide. Suprematistische Bilder etwa beleidigen die Alltagsintelligenz, die, gewohnt in jedes menschliche Erzeugnis einen Sinn hineinzuentdecken, sich in den eigenen Schwanz beißt. Die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ist das Symbol für die Tautologie. Das Schwarze Quadrat ist das Schwarze Quadrat: Jede über diese Feststellung hinausgehende Interpretation erzeugt überflüssigen Sinn, der Klarheit nicht schafft, sondern zerstört. Das Schwarze Quadrat kann den Betrachter dazu bringen, über sein Denken nachzudenken. Was sich hinter diesem Bild verbirgt? Die Wand des Russischen Museums in Sankt Petersburg!

So wie wir unsere Haustiere zur Stubenreinheit erziehen, so sollten auch wir uns dazu ermuntern, nicht unter allen Umständen Sinn aus uns herauszuwürgen. Die Sinnlosigkeit unserer Zeit ist  eine Hypertrophie des Sinns: Es gibt zu viel Sinn bzw. Sinnangebote, die sich gegenseitig aufheben. Was wir brauchen, ist etwas Unplausibles, etwas, dass sich, ähnlich einem Hund, der sich die Nässe aus dem Fell schüttelt, nicht etikettieren lässt. Denn Hand aufs Herz: Niemand weiß genau, was es mit dem Schwarzen Quadrat auf sich hat. Und wer meint, aus diesem Text irgendetwas gelernt zu haben, der ist noch zu schlau für seine Weisheit.

Montag, 6. August 2012

Wo es umkippt

Oh fishy human being! Man ist in tausend Dialektiken eingewoben und kann nie sagen: Aber so ist es! Wenn ich etwa sage, dass es mir für die Welt leid tue, weil ihr Geschrei vor meinem Wachsein nicht bestehen könne, so ist damit noch lange kein Sieg angezeigt. Ich kann die gespenstische Autonomie eines Weininger nie lange durchhalten. Auch in mir sprudeln die warmen Quellen des Lebens, die es niemals zulassen werden, dass ein Gedanke über Leib und Seele gänzlich Herr werde. Auch in mir stürmen die Massen, die dem Vereinzelten, der nicht mit ihnen zieht, Schuldgefühle einraunen. Schuld ist Vereinzelung; aber es ist immer nur der Einzelne, der denkt. Die Konzentration lässt nach, die zwingende Folgerichtigkeit verliert sich in Rhetorik, nichts passt mehr zusammen, ich muss einen Schnitt machen. Es gibt da diesen Punkt, wo alles umkippt, einfach umstürzt, einstürzt. Um ihn zu finden, muss ich nur "Geschlecht und Charakter" aufschlagen und ernstlich durchlesen. Auf diese Weise kann ich leicht Kopfschmerzen herbeiführen. Aber der Geist wehrt sich gegen seine Misshandlung, und auch die tieferen Seelenschichten brodeln vor Erregung; sie wollen nicht ans Licht gezerrt werden; die Seele will nicht erkannt sein. Der Wille zum Leben strebt danach, sich die Wahrheit über sich zu verdecken. Er lässt mich, anstatt weiterzuforschen, hungrig oder müde werden oder Olympia ernstnehmen. Ich will die Radikalität auf die totalst absoluteste Spitze treiben; er nur seine Ruhe. Und er ist mächtiger; immer wieder begradigt er mein ausgerenktes Bewusstsein, bis es wieder glatt daliegt wie ein Teich, in dem sich das letzte Licht des Tages spiegelt.