Dienstag, 20. November 2012

Delphins Nacht

"Ob ich mit Menschen oder Fischen rede, es läuft für mich auf das Gleiche hinaus. Warum begnügen wir uns damit, einander so wenig zu sein, etwas so verachtenswert Nichtiges?!" Das waren die letzten Sätze, die Delphin ihrem Therapeuten gesagt hatte, bevor er die Sitzung abbrach. Eigentlich, heißt es, hätten schizoide Menschen große Probleme damit, Fremden in die Augen zu sehen. Anders Delphin: Sie schaute Doktor Kumzik nicht nur in die Augen; weder blinzelte sie noch wandte sie je ihren Blick von dem Mann ab, den sie liebevoll als Qualle zu bezeichnen pflegte. Zu mehr als Herablassungen dieser Art war sie jedoch unfähig; ihre Liebe, sagte sie einmal, sei ein zu starkes und leidenschaftliches Gefühl, als das sie es an Meerestiere verschwenden könnte. Außerdem bezweifelte sie, dass die Liebe ihrer hypersensiblen, selbst für die kleinsten Erschütterungen überaus empfänglichen Seele keinen Schaden zufügen würde. Kumzik benötigte, angesichts solcher Aussagen, die aus einem Lehrbuch der Psychologie stammen könnten, nicht lange, um sich seiner Diagnose sicher zu sein: Narzisstisch-schizoide Persönlichkeitsstörung, nuschelte er in seinen Bart. Was er nicht wusste: Delphin, die selbst drei Semester Psychologie studiert hatte, rezitierte Sätze, die sie in diversen Werken zusammengelesen hatte. Ganze Sitzungen hindurch tat sie nichts anderes, als markante Aussagen zu memorieren, um die Qualle genau zu der Diagnose hinzuführen, die sie von ihr hören wollte. Wenn sie nicht merken würde, dachte Delphin, dass ich sie täusche, hat sie auch nicht das Recht, mich zu therapieren und mein Innerstes kennenzulernen.

Am liebsten hätte sie sich einfach in ihrer Wohnung eingeschlossen, und zwar für immer. Sie hätte gelesen, geschrieben, auf dem Bösendorfer phantasiert und, bei anbrechender Dämmerung, sogar aus dem Fenster gesehen. "Das macht mich glücklich", hatte sie ihren Eltern immer wieder weißzumachen versucht - ohne Erfolg. "Wir sind nicht dazu da, um dich durchzufüttern", hatte ihre Mutter gesagt. Da Delphin selbst der kleinste Streit physische Schmerzen verursachte, lenkte sie schnell ein.

Nie hatte sie sich unwohler als in Gegenwart Doktor Kumziks gefühlt. Er war kein Balzac, kein Nabakov, niemand, der ihr etwas Wahrhaftiges hätte sagen können, niemand, der ihr das Gefühl gegeben hätte, irgendetwas gewusst oder empfunden zu haben, was sie nicht viel deutlicher gesehen und viel tiefer empfunden hätte. Jedes seiner Worte empfand Delphin als Beleidigung, als hemmungslos-rücksichtslos ausgesprochener Angriff eines mittelmäßigen Menschen, der das Geheimnis ihres Glücks nicht zu erraten vermochte. Sie fragte sich, ob es ihr gekränkter Narzissmus sei, der ihr keine andere Wahl ließ, als so über ihn abzuurteilen. "Kann ich jemand sein wollen, der keine Wahl hat?" Sie stellte sich diese Frage, jedoch ohne ihr gewachsen zu sein. Noch.

Abends dann schaute sie aus dem Fenster und beobachtete einige Kinder, die mit einer Trinkflasche Fußball spielten. Nur verstohlen lugte sie heraus, um nicht gesehen zu werden. Sie hätte es nicht lange ertragen, die Blicke dieser lebenslustigen Wesen auf sich lasten zu fühlen. Endlich, als die Kinder verschwunden waren, schob sie den Sessel an das Fenster, um sich, eine wärmende Decke über ihren Schoß gebreitet, in die Schönheiten des Sternenhimmels zu vertiefen. Der bestirnte Himmel über mir, meinte sie zu denken. Aber sie zitierte bloß. Wie so oft. Mit gleichgültigem Gesicht sah sie in die Nacht hinaus. Wohin war der Zauber dieses größten, allumfänglichsten Schattens geflohen, der in ihr einst das Gefühl des Erhabenen entfacht hatte? Das Gefühl, eins zu sein mit dem Kosmos - in welchen Winkel ihres Gehirns hatte es sich verkrochen?

Hatte sie Doktor Kumzik nicht souverän im Griff gehabt und jede seiner Aussagen meisterhaft gekontert? Hatte sie nicht mit nahezu wissenschaftlicher Strenge bewiesen, dass er nur eine Qualle war. Hatte sie ihn nicht in so viele sokratische Dialoge hineingezogen, die immer wieder nur eines bewiesen hatten, nämlich die bodenlose Unfähigkeit dieses Therapeuten? Fühlte sie sich nicht jedesmal gestärkt und in ihren Überzeugungen gefestigt, wenn sie aus einer seiner Sitzung herauskam? Delphin hörte auf, ihre Blicke in das Nichts der Nacht zu senden und wandte sich zu ihrem Bett. Erste Tränen liefen ihr über die Wangen, die ersten seit Monaten. Von ihrem Kissen schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszugehen. Sie stürzte sich in dieses Kissen ... um zu sterben ... um zu leben ...

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