Dienstag, 4. Dezember 2012

Die Krähe

Endlich auf dem Friedhof angekommen, wische ich den Schnee von den Grabsteinen. Ich suche das Grab des Vaters, den ich nie hatte, um es zu schänden, die Gräber der Geschwister, die ich nie hatte, um ihnen aus meinem Leben zu erzählen, und die Gräber meiner Kinder, die keinen Grund anzugeben wüssten, eines Tages mein Grab zu schänden, weil sie das Licht dieser Welt niemals erblicken werden.

Eine Krähe lässt sich vom verschneiten Birke fallen und schwingt sich auf meine Schulter. Einen Moment fürchte ich, dass sie mich beißen könnte, aber sie schaut mich nur interessiert aus schwarzen, aufmerksamen Augen an. Zusammen gehen wir weiter. Niemand nimmt Anstoß daran, dass mir eine Krähe auf der Schulter sitzt. Allerdings begegne ich an diesem nebligen Vormittag, über dem ein weißer Himmel leuchtet, auch nur drei Menschen. Und diese haben eben keinen Blick für mich, den lebenden Fremden, weil sie sich nur für ihre geliebten Toten interessieren. Ich kann's ihnen nicht verübeln.

Die Krähe ist nicht zerstreut, nicht zerfallen in sich; in ihren Blicken glüht Unruhe, aber kein Zeichen der Transpiration nach dem Absoluten - sie lebt ganz im Jetzt. Deshalb bin ich froh, dass sie dieses ihr Jetzt, ihr Einziges, ihre Ewigkeit mit mir teilt. Sie vertraut ohne Berechnung und ohne Hoffnung. Sie begleitet mich, als ich den Friedhof verlasse. Ihre Aufgabe kann sich unmöglich darin erschöpfen, für ein wenig triste Stimmung auf dem Gottesacker zu sorgen, denke ich. In der Tat scheint sie keine Neigung zu bewegen, nach diesem gleichermaßen hellen wie dunklen Ort umzukehren. 

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