Dienstag, 4. Dezember 2012

Verehrung verlernen

Wie kannst du dich über die Lyrik eines sogenannten Seelenverwandten freuen, wenn dir doch bewusst ist, dass sich diese Seelenverwandtschaft bloß auf der euch beiden gemeinsamen Fähigkeit gründet, Unfähigkeiten kunstvoll in Szene zu setzen? Ein melancholisches Gedicht Lenaus kann den Leser dazu verführen, sich in seiner Resignation biedermeierlich-bequem einzurichten. Aber hast du Texte nicht schon viel zu lange nach dem hin abgesucht, was dir zur Illustration und Rationalisierung deines Lebensunmuts dienlich sein könnte? Siehst du die Würmer nicht, die unter der dünnen Haut dieser morbiden Schönheit ihre Eier legen?

Schau' aus dem Fenster! Wo ist der Bach, der durch's Tal säuselte, wo der Wald, dessen Einsamkeit dein Herz erquickte? Wo die schöne Schäferin? Was du siehst, ist Beton, matt erhellt von elektrischem Licht. Das ist kein schöner Anblick, ja. Aber nur der Gedanke verdient es überhaupt, gedacht zu werden, der dir wehtut, dich ankotzt, der dich etwas kostet; nur so wird deinem Schmerz eine Zunge wachsen.

Du wirst deine Waffen schärfen müssen, um sie gegen das zu wenden, was du bisher am meisten verehrt hast: gegen die resignative Schönheit selbst. Das hört sich martialisch an und ist es auch. Sei dir jedoch bewusst, dass es sich dieses Mal nicht bloß um eine Selbstverständigung bezüglich ästhetischer Präferenzen handelt, sondern um Leben und Tod.
  

 

   

1 Kommentar:

  1. Gegen den ersten Satz würde ich gerne "Einwände" erheben: es ist doch gar keine Seelenverwandtschaft, wenn diese auf nur einer Gemeinsamkeit beruhrt. Hmm, doch es ist auf jeden Fall interessant, dass du dieses Wort in diesem Zusammenhang verwendest.

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