Sonntag, 30. Dezember 2012

Zufall?

Die persönlichen Probleme sind zumeist, wenn man sie nur angemessen universalisiert, nichts anderes als die Menschheitsprobleme.

Es ist immer offensichtlich, wer man ist, ob man nun lügt oder die Wahrheit spricht. Allerdings ist es sehr bequem, einen Menschen bloß beim Wort zu nehmen.

Sowohl die Wahrheit als auch die Weisheit sind grammatikalisch betrachtet weiblich. Ein Zufall?

Wer gütig ist, wird die Wut eines Menschen nicht mit diesem selbst verwechseln. Mit anderen Worten: Der Gütige kann den Wütenden als Wütenden nicht ernstnehmen.

"Niemand versteht mich!" - so spricht, wer sich nach nichts sehnlicher sehnt, als endlich missverstanden zu werden, nämlich nicht so, wie er sich selbst versteht.

Man muss den Kopf immer oben haben, auch wenn man sich gerade über ein Buch beugt.

Man kann auch absichtlich unverständlich schreiben, um das Verstehen des Lesers entweder hinauszuzögern oder ganz unmöglich zu machen. Damit verhindert man, schnell verstanden und damit auch, schnell widerlegt zu werden. Der redliche Leser wird nur das als Unsinn bezeichnen, was er auch verstanden zu haben meint. Was er nicht versteht, kann er nicht widerlegen. Im Gegenteil neigen viele Leser sogar dazu, das, was sie nicht zu fassen bekommen, für tief und weise zu halten. Ein Großteil der Ehrfurcht, die die Bildungsbeflissenen gegenüber der Kultur empfinden, rührt von der bloß erahnten Bedeutung dessen her, was sich nicht in ihren Köpfern ansiedeln mag.

Dem Lässigen genügt die Gewissheit, dass er gewinnen wird. Dann auch tatsächlich zu gewinnen, nein, das ist ihm zu banal.

Freitag, 28. Dezember 2012

Weisheit für Steine

Man gesteht sich seine Schwächen erst dann in vollem Umfang ein, wenn man an ihnen zu arbeiten angefangen hat. Mit anderen Worten: Erst durch die Praxis können wir uns erkennen. Wer nichts tut, verändert sich nicht; und wer sich nicht verändert, kann sich nicht von sich selbst unterscheiden und also auch nicht erkennen. Wir können uns, gleich den Schlagen, immer nur in unseren abgestreiften Häuten wiederentdecken. Ergo: Wir kommen immer zu spät, wo wir uns auch suchen mögen.

Wer liebt, widerspricht. "Alles verstehen heißt alles verzeihen" - das ist eine Weisheit für Steine.

Donnerstag, 27. Dezember 2012

Dämonen

Als ich am Boden lag, wäre es den Dämonen leicht möglich gewesen, mich endgültig auszulöschen. Aber sie taten es nicht. Wie eine Katze die Maus leben lässt, um mit ihr zu spielen, so ließen mich auch diese Dämonen leben. Und vielleicht spielen sie noch jetzt mit mir; etwa indem sie mich wähnen lassen, dass ich ihnen etwas Substantielles entgegenzusetzen hätte.

Wer sich bessern will, wird ein verfeinertes Gefühl für alle Zeichen seiner Besserung entwickeln; ihm wachsen hundert neue Augen. Vielleicht wird er auch die zweifelhafte Fähigkeit ausbilden, diese Zeichen in die Dinge hineinzuentdecken ... Aber ich bin nicht Skeptiker genug, um das Belogenwerden zu fürchten. Ich habe keine Angst, mich täuschen zu lassen. Das werden auch die Dämonen gerne hören. Manchmal, wenn es ganz still ist, erlausche ich ihr Lachen, Lästern und Lustigsein. Dann frage ich mich, wer hier eigentlich wen täuscht? Sie mich? Ich sie? Wissen sie, dass ich sie höre? Oder tun sie nur so, als ob sie nicht wüssten, dass ich sie höre? Diese Nuss sollen andere knacken. Es gibt keine Dämonen.

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Alte Ernste

Wer das Gute nicht tut, kann auch kein guter Mensch sein. "Aber eigentlich bin ich ganz anders." Nein, bist du nicht!

"Wie könnte ich's ihr sagen?" - mit Fragen wie dieser hebt das Unheil an. Sehr viel über einen Menschen nachzudenken, ohne mit ihm zu sprechen, ist niemals gut. Die Liebe bekommt etwas Schwärmerisches, Wehleidiges, Wirkungsloses ... Ich will nicht an sie denken, um sie in meiner Imagination nicht zu einem Wunder entarten zu lassen. Die entscheidende Frage ist immer diese: Könntest du ihr das auch ins Gesicht sagen? Wenn nicht, so waren deine Hoffnungen nur aus Träumereien geboren. Im Licht des Tages werden sie sich auflösen - und dir wird klar werden, dass du die ganze Zeit überhaupt nicht an sie gedacht hast ...

Ich habe lange durchbuchstabiert, was ein autonomes Denken heißen könnte. Ob ein Denken autonom ist-, entscheidet sich jedoch jenseits des bloßen Denkens - im Leben. 

Wenn die Differenz zwischen dem, was wir den Menschen sagen, und dem, was wir über sie denken, zu groß ist, entstehen Schuldgefühle. Wir schielen: Mit einem Auge schauen wir nach außen, mit dem anderen kleben wir in uns selbst fest. Wer sich bessert, stellt sich viele Fragen, die er lange Zeit für die entscheidenden gehalten hat, nicht mehr. Die metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen - eine schöne Metapher, da hast du Recht. Ich gehe sie schnell archivieren und komme dann wieder, um mit dir auf das neue Jahr anzustoßen.

Es ist nicht möglich, etwas nicht zu denken, wenn man nicht verstanden hat, warum es besser ist, es nicht zu denken. Denken heißt immer auch, sich selbst zu erziehen, sich also in vielerlei Hinsicht nicht (mehr) allzu ernst zu nehmen. Eines Tages werden wir mit einem Lächeln auf all diese alten Ernste schauen dürfen - so zumindest stelle ich mir den jüngsten Tag vor.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Nebenplatz des Lebens

Viele Menschen wünschen sich, attraktiv zu sein. Attraktivität hat den Vorteil, dass ihre Wirkung eine unmittelbare ist, während sich die Facetten eines gewinnenden Charakters erst mit der Zeit offenbaren. Wer attraktiv ist, hat beim anderen Geschlecht mehr Chancen, selbst dann, wenn er oder sie dämlich dreinblickt. Ja, das Leben ist ungerecht. Diese Ungerechtigkeit betrifft allerdings nur einen, wenn auch hoffnungslos überfüllten, Nebenplatz des Lebens; der Centercourt ist jedem jederzeit zugänglich. Denn was nützte es, begehrenswert zu sein, wenn man ein innerlich armer, zu Empathie unfähiger Mensch bliebe? Wäre es nicht unendlich viel wichtiger, an seiner Liebens-würdigkeit zu arbeiten, anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man auf andere wirkt? Auf die Frage, was zu tun sei, um ein liebenswerterer Mensch zu werden, kann es nur eine Antwort geben: Lieben! Dass es irgendwelche Kriterien zu erfüllen gelte, um liebenswert zu sein, beispielsweise ein möglichst attraktives Äußeres, ist eine Ausrede. Es kann keinen Grund geben, nicht zu lieben und damit auch keinen, nicht geliebt zu werden. Die Tür zum Centercourt steht immer offen; anders als bei Kafka wird kein zynischer Türhüter aus dem parabolischen Dunkel hervorspringen, um sie zu bewachen. Wenn es irgendwo einen Türhüter gibt, dann nur im Herzen des Menschen, der sich einredet, dass ihm ausgerechnet das Wesentliche verschlossen bleiben müsste. Frohe Weihnachten!

Samstag, 22. Dezember 2012

Räusche des Wachseins

Es geht immer damit los, dass man die Bilder mit der Wirklichkeit verwechselt ... Warum habe ich mich bei Facebook angemeldet? Irgendwie fühlt es sich nicht gut an, inmitten all dieser Leute, die augenscheinlich nur auf Party aus sind, gelistet zu werden. Aber wie gesagt: Man sollte die Bilder nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Aber was ist die Wirklichkeit? Ich lehne mich mal aus dem Fenster und sage, dass nichts wirklicher sein könnte als ein menschliches Herz, das um sich selber weiß. Ich werde Facebook nicht nutzen, um irgendeine Individualität zu zelebrieren, die ich nicht habe. Ich werde mir einige Gruppen ansehen, die mir neue Möglichkeiten eröffnen, ein paar Nachrichten schreiben und lesen - mehr nicht. Was immer ich in den letzten Wochen herausgefunden habe, es ist zu wichtig, um es zugunsten irgendwelcher Selbstdarstellungsspielchen zu verraten. Ich werde mich auch nicht in die UB hocken, um Angry Birds zu spielen. Meine Räusche sind Räusche des Wachseins, des bis auf die äußerste Spitze getriebenen Bewusstseins. Mein Alkohol heißt Koffein.

Ich habe mich zu lange gehen lassen. Deswegen weiß ich genau, welche Worte Menschen, die sich gehen lassen, verletzen. Mein Schreiben ist masochistisch; ich verkünde keine in der Sonne gereifte Weisheit, sondern berichte von jenen Orten, an denen meine Hoffnungen mit meinen Gewohnheiten im blutigem Kampfe liegen. Ich lese nur noch Bücher, die mir widersprechen. Ich muss den Druck hochhalten. Dieser Staub darf sich niemals wieder legen.

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Kein Grund

Vielleicht lieben Männer und Frauen anders. Wenn dir eine Frau also etwas über die Liebe erzählt, kannst du es ohne Bedenken in Parenthese setzen. Setze aber auch dieses "ohne Bedenken" noch in Parenthese.

Unschuldig allein ist die Aktivität. Sie ist unschuldiger als die Unschuld selbst.

"Letztlich kommt es auf mich an" - Egoismus und Selbsterkenntnis gehen von der gleichen Prämisse aus.

Es kann keinen Grund geben, nicht zu lieben.

Dein schlechtes Gewissen beweist, dass du zu mehr fähig bist. Denn wenn du vollkommen unfähig wärst, würdest du dich nicht deiner Unfähigkeit wegen schämen. Du weißt aber, dass dir das "Ich kann nicht anders" versperrt ist. Und im Grunde willst du auch, dass es dir versperrt ist. Du ahnst dein Können - und damit deine Verantwortung.

Wir können nicht naiv sein wollen. Über die Naivität zu reflektieren heißt, sie auszulöschen. Aber wir können das Wesentliche tun und darüber das Unwesentliche vergessen. In den Augen jener, die das Unwesentliche für das Wesentliche ansehen, verhalten wir uns dann naiv. Durch den fremden Blick erfahren wir erst von unserer Naivität. Wir können noch gar nicht wissen, welche Naivitäten wir an uns noch entdecken werden, weil wir die Bosheit noch nicht kennen, mit der man einst nach uns schauen wird.

Schaffe Möglichkeiten - dann werden auch deine Hoffnungen immer gute Nistplätze haben!

Man kann nicht glücklich werden, ohne Glück zu spenden.
   

Dienstag, 18. Dezember 2012

Scheißperfektionismus

Geliebter Bruder,

während ich dir immer freundliche Grüße geschickt habe, hast du mir immer nur beste Grüße geschickt. Du bist eben schon immer ein Perfektionist gewesen. Schon damals, als wir gerade erst das Schreiben gelernt hatten und uns darauf freuten, endlich unsere ersten Briefe schreiben zu können, hast du schon mit dem besten Gruß beschlossen. Schon damals waren dir freundliche Grüße nicht freundlich genug. Es mussten eben die besten Grüße sein. Die besten Grüße seien eben die besten, hast du mir einmal geschrieben, und wer freundliche Grüße sende, grüße nicht auf die bestmögliche Weise.

Auch heute noch sendest du mir nur beste Grüße, keine freundlichen, wenn du mir eine Mail schreibst. Sogar deiner Mutter sendest du nur beste Grüße, während sie dir immer nur freundliche Grüße sendet. Das weiß ich, weil sie mir geschrieben hat, und weil sie mir in diesem ihrem Schreiben geschrieben hat, wie du ihr schreibst. In der ganzen Familie sendest nur du beste Grüße, während wir anderen einander freundliche Grüße senden. Immer willst du herausstechen, anders und etwas Besonderes, eben der Beste sein. Der Beste, der nur beste Grüße sendet. Ich will ja nicht kleinkariert wirken - du weißt genau, dass ich nicht kleinkariert bin; Mutter hat dir bestimmt schon einmal geschrieben, dass ich nicht kleinkariert bin -, aber diese deine Eigenart, beste statt freundliche Grüße zu senden, fällt mir schon auf, solange ich denken kann. Ich habe dir bestimmt auch schon einmal geschrieben, dass mir auffällt, welche Grüße du mir schickst, nämlich beste Grüße, in einem Brief, den ich mit freundlichen Grüßen beschlossen habe, wie es sich gehört. Ich habe so oft Briefe an dich mit freundlichen Grüßen beschlossen; und immer dachte ich, mit meinen freundlichen Grüßen auf dich einwirken zu können. Aber es half nichts; noch heute beschließt du alles, was du mir schreibst, mit besten Grüßen. Vielleicht versuchst du ja ebenso, auf mich einzuwirken, indem du mir statt freundlichen beste Grüße sendest. Bist du etwas so berechnent, so kleinkariert, so, wie soll ich sagen, perfektionistisch? Warum kannst du nicht akzeptieren, dass ich so bin, wie ich bin, nämlich freundlich und alles andere als kleinkariert? Ich meine es doch nur gut. Aber dein Scheißperfektionismus ist eben scheiße.

Mit freundlichen Grüßen
Dein Bruder

Montag, 17. Dezember 2012

Lernen als Geschwür

Lernen heißt nicht, dass du stillsitzt und zuhörst, was ein Lehrer oder Dozent dir erzählt. Alles, was du bloß deshalb mitschreibst, weil es irgendjemand für "relevant" hält, wird dir nichts bringen. Mache dir immer wieder klar, dass du nur für dich lernst. Höre niemals auf, die Frage nach dem Wozu deines Lernens zu stellen. Wenn du das Gefühl hast, ein sinnloses Wissen in dich hineinzufressen, kannst du dich nicht, gewissermaßen als Kompensation, für dein diszipliniertes Arbeiten loben. Deine Freude darüber, etwas zu lernen, darf niemals dem dümmlichen Bildungsstolz weichen, der sich selbst auf die Schulter klopft, weil er so vorbildlich und methodisch geläutert zu arbeiten gelernt hat. Es gibt keine Kompensation für die entgangene Freude. Deshalb musst du diese Freude einfordern; sie ist die Bedingung nicht nur jeder Erkenntnis ... Es gibt zu viele Menschen, die nur zu funktionieren gelernt haben. Und wo haben sie es gelernt? In der Schule. Sie haben gelernt, Wissen zu reproduzieren, auf vorgegebenen Fragen zu antworten und dass es wichtig ist, nicht unangenehm aufzufallen, wenn man Erfolg haben will. Sie haben immer nur für andere zu lernen gelernt, niemals für sich selbst. Im Grunde haben sie also überhaupt nichts gelernt, schon gar nichts über sich selbst. Das Lernen an sich, diese so belebende und erfrischende Aktivität, ist ihnen verargt worden; ein gute Stück ihres Menschseins selbst ist ihnen verargt worden.





Samstag, 15. Dezember 2012

Selbstüberschätzung

Ein Grund für die Selbstüberschätzung ist sicherlich darin zu suchen, dass wir über uns selbst immer mehr  „wissen“  als über alle anderen Menschen. Das Wenigste, das wir einander sagen könnten, sprechen wir tatsächlich aus; das meiste bleibt ungesagt. Und selbst die Gedanken, die es schaffen, geboren und ausgesprochen zu werden, erwecken oft nicht den Eindruck, aus irgendeiner Tiefe geschöpft zu sein. Daraus allerdings zu schließen, dass der andere tatsächlich so arm, so beschränkt und phantasielos ist, wie es seine Rede vermuten lässt, hieße, sich einer optischen Täuschung hinzugeben. Wer wäre denn immer fähig, das auszusprechen, was seine Seele konvulsieren lässt? 

Das Schweigen, das selbst aus der lebhaftesten Kommunikation herausgehört werden kann, sollte uns nicht dazu verleiten, zwischen uns und den anderen essentiell zu unterscheiden. Weil sich jemand nicht gut ausdrücken kann, heißt das noch lange nicht, dass er nichts in sich fühlte, dass es wert wäre, ausgedrückt zu werden. Das hört sich einleuchtend und menschlich warm an; letztlich ist aber ungewiss, was in einem solchen Menschen vorgeht. Er existiert für jemanden, der auf diskursive Rationalität steht, oft gar nicht. Die Verachtung des „großen Haufens“, wie sie in vielen philosophischen Texten der Tradition zu finden ist, legt davon ein unrühmliches Zeugnis ab. Schopenhauer ist ein gutes Beispiel, weil er mit größter Naivität dem Gefühl seiner Genialität Ausdruck gibt, während er auf der anderen Seite über den gewöhnlichen Mann, diese „Fabrikware der Natur“ ablästert.

Ich denke nicht, dass es zwischen den Menschen so große Unterschiede gibt, wie man leicht meinen könnte. Dass wir so sehr zwischen ihnen unterscheiden, liegt eben an der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksformen und ihres Schweigens. Es wäre jedoch unredlich, diese Verschiedenheit in das Sein selbst hineinzudichten. Es gibt keine flachen oder tiefen Menschen. Manchen können sich eben so auszudrücken, dass man sie für tief hält, das ist alles. Wer an tiefe Menschen glaubt, denkt flach.

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Trübe Tasse

Was ich auch an Aufbauendem und Inspirierendem schreiben mag, es lebt bloß aus der Sehnsucht nach dem Guten, nicht aus dem Guten selbst. Der Mensch, den der Leser oder die Leserin aufgrund meiner Texte imaginiert, ist jemand, dem ich mich selbst ausgeliefert fühlte, sollte ich ihm einmal begegnen. Denn nicht ich schreibe hier, sondern ein stilisiertes, ein aufgemotztes Ich. Der "Mensch dahinter" ist, man ahnt es, eine trübe Tasse. Alle meine Hoffnungen hängen in der Luft und ernähren sich von Exaltationen. Ich schreibe nicht, um ein Gefühl auszudrücken, sondern um es zu erzeugen oder wenigstens wahrscheinlicher zu machen. Gelegentlich falle ich mit voller Absicht auf meine eigene Rhetorik herein; dann verschmelzen Geschriebenes und Gelebtes zu einer neuen, klangvolleren Realität. Dass ich eine trübe Tasse sei, ist ein Urteil, das mich nicht mehr trifft, sobald ich zum Dichter meines Lebens mutiert bin. Das ist wie mit Hulk. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich schreibe. Es gäbe bessere, sicher. Und ich will eines Tages aus einem anderen Grund schreiben. Oder auch nicht mehr schreiben ...

Universale Erkenntnis

für Susanna zur Anregung 

Was immer wir auch denken, wir denken nur ein Detail, einen Ausschnitt der Welt. Das Verstehen des Universums, des Ganzen, des Alleinen ist uns nicht möglich; es ist auch überhaupt nicht klar, wie ein solches Verstehen beschaffen sein könnte. Wer sich, beseelt von der Hoffnung, in die letzten Geheimnisse des Seins einzudringen, in die Wissenschaften vertieft, wird unausweichlich enttäuscht werden. Denn jede Wissenschaft hat bestimmte Gegenstände, Methoden und damit Grenzen. Das sollte uns jedoch nicht daran hindern, all unser Wissen zusammenzudenken und zusammenzufühlen. Ein Mensch, der nach Erkenntnis strebt, wird gar nicht umhinkommen, interdisziplinär zu denken; man muss es ihm gar nicht anraten, es ist ihm natürlich. Jedes bloß fragmentarische und isolierte Wissen ist wertlos. Um etwas zu verstehen, muss man alles verstehen -  so spricht die Intuition all jener, die nach Erkenntnis lüstern sind.

Wissenschaftliche Forschung beinhaltet, sich bescheiden zu müssen mit dem wenigen, was man innerhalb seines begrenzten Denkhorizonts herausfinden kann. Viele Wissenschaftler sind geblendet von den Erfolgen, die sie auf ihren Gebieten erzielen und verabsolutieren ihre Methode, um sie auch auf anderen Gebieten anzuwenden. So führt die Sehnsucht nach einer allumfassenden Erkenntnis oft zu einem schnöden Reduktionismus. Etwas wird auf etwas anderes zurückgeführt: Der Geist ist bloß eine neuronale Gewitterwolke, ein Gedicht bloß die Wiederspiegelung eines Klassenbewusstseins, die Liebe nichts anderes als ein biologisch erklärbares Phänomen. Der Reduktionismus erzeugt den Schein allumfassender Erkenntnis, indem er die Welt aus einem Punkt heraus zu erklären sucht, aus irgendetwas Wesentlichem, Zentralem, aus etwas, das allem anderen vorgeordnet sein soll. Ein Physiker könnte beispielsweise sagen, dass alles Physik sei, womit er auch sicherlich richtig läge, denn wer würde leugnen, dass alles auch eine physikalische Grundlage hat? Aber wäre es etwa zweckdienlich, ein Gedicht Hölderlins experimentell zu untersuchen?

All unser Wissen ist fragmentarisch. Wir können unsere Durchdringung steigern, niemals aber das Ganze gänzlich begreifen. Und doch können wir vielleicht gar nicht anders, als uns immer wieder neue Wege zu diesem unbekannten, bloß erahnten Ganzen zu erschließen. Das, was denjenigen antreibt, der nach Erkenntnis strebt, hat der religiöse Mensch immer schon erreicht, und zwar ohne große Mühe. Wer denkt, denkt unweigerlich etwas Bestimmtes, während der Gläubige sich mit dem Ganzen verbunden fühlt. Und ist es nicht naheliegend, an etwas, das man nicht gedanklich fassen kann, zu glauben? Ist es nicht sogar unausweichlich? Müssen wir nicht alles, was wir verstehen wollen, bereits als Verstehbares antizipiert haben, um es überhaupt verstehen zu können? Könnte also die Antizipation des Alleinen das Movens selbst einer jeden partiellen Erkenntnis sein? Wir wissen, dass wir niemals alles wissen werden. Aber wer besäße Konsequenz genug, aus dieser so unabweislichen Ahnung den so naheligenden Schluss zu ziehen, dass das Streben nach allumfassender Erkenntnis aufzugeben sei? Wir mögen unsere Ambitionen begraben - unser unwiderstehlicher Zug hinaus und hinauf ins Umfassende, Verbindende, kosmisch Antizipierte und Allumschließende wird durch diesen bloß verstandesmäßigen Entschluss überhaupt nicht berührt, sondern lediglich modifiziert.

Samstag, 8. Dezember 2012

Ernst und Witzigkeit

Ich komme soeben aus einer Gesellschaft, deren Mittelpunkt ich war. Die Witzworte strömten von meinen Lippen. Alles bewunderte mich. Und ich, ich ging hinaus und ---------- der Gedankenstrich muss so lang sein wie die Radien der Erdbahn ------, ich ging hinaus und wollte mich erschießen. (Kierkegaard)

Vielleicht können nur wirklich ernste Menschen wahrhaft witzig sein, weil nur sie ihre Witzigkeit nötig haben - als Gegengift, als Medizin gegen den Schwindel, welcher ihnen der Blick in Abgründe bereitet. Sie mögen es genießen, im Mittelpunkt zu stehen und die Lacher auf ihrer Seite zu wissen. Doch dieser Genuss wird das Innerste ihres Herzens niemals erreichen; zu schmerzlich fühlen sie, dass man, indem man sie ihrer Worte wegen beklatscht, bloß die Grazilität feiert, mit der sie ihre Krücke zu führen verstehen.

Dass man viel reden kann, ohne irgendetwas zu sagen, ist eine Beobachtung, die ich auch an mir oft machen muss. Ich suche einmal mehr nach einer neuen Sprache und einem neuen Stil - und deshalb suche ich nach Menschen, die mich in meiner Hoffnung bestärken, dass eine neue Sprache und ein neuer Stil möglich sind, erfahrene Menschen vor allem, von denen ich viel lernen kann. Wie sollte ich sonst meine unerträgliche, seit der Pubertät mitgeschleifte Albernheit endlich abstreifen können? - Aber ist es denn überhaupt möglich, sie abzustreifen? Zu kultivieren? Müsste ich dazu nicht zuallererst meinen lächerlich-tiefsinnigen Ernst abzuarbeiten anfangen? Aber tue ich das nicht jeden Tag? ----------------------------

Das letzte Wort fällt nicht

"Wer nicht an Gott glaubt, der glaubt doch an etwas anderes, ob er dies nun wahrhaben will oder nicht." Es ist erstaunlich, wenn sich religiöse Menschen gerade dieses Arguments bedienen, um ihren Glauben zu rechtfertigen, suggeriert es doch, dass die Religion dem Menschen dazu dient, sein metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen, ein Bedürfnis, das eben auch anders befriedigt werden könnte. Damit ist die Wahrheit, die eine Religion verkündet, immer schon relativiert. Kann man an etwas glauben, von dem man weiß, dass es kontingent ist?

Wir wissen nie endgültig, wie jemand über uns denkt, was er fühlt, wenn er in unsere Augen schaut oder den Klang unserer Stimme hört; und ebenso unterliegen auch unsere Urteile und Empfindungen einem beständigen Wechsel. Das letzte Wort fällt nicht, das Rätsel dieses Lebens bleibt unaufgelöst. Gerade diese strukturelle Ungewissheit darüber, wie es mit unseren Beziehungen wirklich steht, verleiht ihnen einen ewig sich verjüngenden Reiz. Sich damit abzufinden, ein schlechter Mensch zu sein, heißt vielleicht, diese Ungewissheit gegen eine schlechte Gewissheit einzutauschen. Es scheint überhaupt nur schlechte Gewissheiten zu geben.


Der Mensch ist das Schicksal des Menschen. Alle Wege gehen von ihm aus und führen zu ihm zurück. Gott ist nur der Name einer Wegmarke.

Ich habe keine Grundsätze - aus Prinzip.

"Warum hast du die Schatzkammern bewachen lassen, wenn sie doch leer sind?", fragte der Räuber im Märchen den gefesselten Sultan. "Gerade weil sie leer sind, habe ich sie bewachen lassen", antwortete er.


Freitag, 7. Dezember 2012

Brennende Augen

Ist dir eigentlich bewusst, wieviele Menschen du mit deinem ungebrochenen Lebensmut verdrießlich stimmst? Nicht deine schroffen und unausgeglichenen Züge sind es, die sie an dir nicht leiden mögen, sondern deine Fröhlichkeit, dein Optimismus und diese unglaubliche Kraft, mit der du jedes Problem anpackst. Du bringst die Menschen dazu, über sich nachzudenken; sie fragen sich, warum sie nicht so sein können wie du. Durch deine bloße Existenz verletzt du sie, weil sie sich mit dir vergleichen. Wer könnte diesem Vergleich standhalten? Wo immer du hinkommst, erzeugst du eine gedrückte und verbitterte Menschheit. Niemand könnte dir etwas Böses vorwerfen, weil deine Güte eine echte, eine tiefempfundene und wahrhaft menschliche ist. Mit jedermann suchst du das Gespräch. Jedem gibst du eine Chance und hörst ihm aufmerksam zu, sprichst einfühlsam, aber auch kritisch mit ihm, wenn du dies für angebracht hältst.

Aber gerade diese deine Güte ist es, welche die Schmerzen in vielen Herzen befeuert, auch in dem meinen. Ich hoffe, dass wir niemals in eine Situation wie die folgende hineingeraten werden. Doch dir soll bewusst sein, dass, wenn ich vor die tödliche Wahl gestellt wäre, entweder dich oder einen Menschen zu opfern, von dem man sagt, dass er ein Arschloch sei, ich dich opfern würde. Ich zöge dir jemanden vor, für den Gutmensch ein Schimpfwort ist, der dreckige Witze liebt und sich nicht scheut, die Welt nach seinen engstirnigen Vorurteilen zu bemessen. Das Licht, das von dir ausstrahlt, blendet mich, ja es brennt mir geradezu in den Augen - da verkehre ich lieber im Dunklen mit meinesgleichen.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Dankbarkeit

Ahnungen dessen, was das Leben sein könnte, bevölkern seit Tagen schon mein verwundertes Herz. Mir ist bewusst geworden, dass ich etwas zu verlieren habe.

Natürlich werde ich auf die Fresse fliegen. Aber das ist letztlich nicht das Entscheidende. Wenn ein Mensch wirklich nach Erfahrung und Erkenntnis strebt, wird er nicht umhin können, selbst für seine grausamsten Rückschläge noch dankbar zu sein. Zu viel darf er aus ihnen lernen, als dass er ihrer entraten könnte.

Die wichtigste Tugend heißt Dankbarkeit.

Dienstag, 4. Dezember 2012

Verehrung verlernen

Wie kannst du dich über die Lyrik eines sogenannten Seelenverwandten freuen, wenn dir doch bewusst ist, dass sich diese Seelenverwandtschaft bloß auf der euch beiden gemeinsamen Fähigkeit gründet, Unfähigkeiten kunstvoll in Szene zu setzen? Ein melancholisches Gedicht Lenaus kann den Leser dazu verführen, sich in seiner Resignation biedermeierlich-bequem einzurichten. Aber hast du Texte nicht schon viel zu lange nach dem hin abgesucht, was dir zur Illustration und Rationalisierung deines Lebensunmuts dienlich sein könnte? Siehst du die Würmer nicht, die unter der dünnen Haut dieser morbiden Schönheit ihre Eier legen?

Schau' aus dem Fenster! Wo ist der Bach, der durch's Tal säuselte, wo der Wald, dessen Einsamkeit dein Herz erquickte? Wo die schöne Schäferin? Was du siehst, ist Beton, matt erhellt von elektrischem Licht. Das ist kein schöner Anblick, ja. Aber nur der Gedanke verdient es überhaupt, gedacht zu werden, der dir wehtut, dich ankotzt, der dich etwas kostet; nur so wird deinem Schmerz eine Zunge wachsen.

Du wirst deine Waffen schärfen müssen, um sie gegen das zu wenden, was du bisher am meisten verehrt hast: gegen die resignative Schönheit selbst. Das hört sich martialisch an und ist es auch. Sei dir jedoch bewusst, dass es sich dieses Mal nicht bloß um eine Selbstverständigung bezüglich ästhetischer Präferenzen handelt, sondern um Leben und Tod.
  

 

   

Die Krähe

Endlich auf dem Friedhof angekommen, wische ich den Schnee von den Grabsteinen. Ich suche das Grab des Vaters, den ich nie hatte, um es zu schänden, die Gräber der Geschwister, die ich nie hatte, um ihnen aus meinem Leben zu erzählen, und die Gräber meiner Kinder, die keinen Grund anzugeben wüssten, eines Tages mein Grab zu schänden, weil sie das Licht dieser Welt niemals erblicken werden.

Eine Krähe lässt sich vom verschneiten Birke fallen und schwingt sich auf meine Schulter. Einen Moment fürchte ich, dass sie mich beißen könnte, aber sie schaut mich nur interessiert aus schwarzen, aufmerksamen Augen an. Zusammen gehen wir weiter. Niemand nimmt Anstoß daran, dass mir eine Krähe auf der Schulter sitzt. Allerdings begegne ich an diesem nebligen Vormittag, über dem ein weißer Himmel leuchtet, auch nur drei Menschen. Und diese haben eben keinen Blick für mich, den lebenden Fremden, weil sie sich nur für ihre geliebten Toten interessieren. Ich kann's ihnen nicht verübeln.

Die Krähe ist nicht zerstreut, nicht zerfallen in sich; in ihren Blicken glüht Unruhe, aber kein Zeichen der Transpiration nach dem Absoluten - sie lebt ganz im Jetzt. Deshalb bin ich froh, dass sie dieses ihr Jetzt, ihr Einziges, ihre Ewigkeit mit mir teilt. Sie vertraut ohne Berechnung und ohne Hoffnung. Sie begleitet mich, als ich den Friedhof verlasse. Ihre Aufgabe kann sich unmöglich darin erschöpfen, für ein wenig triste Stimmung auf dem Gottesacker zu sorgen, denke ich. In der Tat scheint sie keine Neigung zu bewegen, nach diesem gleichermaßen hellen wie dunklen Ort umzukehren. 

Sonntag, 2. Dezember 2012

Danke!

Was der Mensch sei, ist eine Frage, die ich freilasse, so wie man einen Kanarienvogel freilässt, indem man ihm das Türchen seines Käfigs öffnet. Sie erregt mich einfach nicht, nicht mehr. Und wenn mir doch einmal jemand diese kantische Frage stellen sollte, womöglich deshalb, weil er mich mit so etwas wie einem Philosophen verwechselt, würde ich bloß Friedrich Kittler paraphrasieren:

"Was Mensch heißt, bestimmen keine Attribute, die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards."

Fragte mich dieser Mensch dann, was damit gemeint sei, würde ich nur mit den Achseln zucken. Was geht mich der Mensch an? Ich interessiere mich nur für lebendige Menschen in ihrer ganzen widersprüchlichen Konkretion. Was nützt es mir, mich an intellektuellen Leichnamen zu vergehen, an Männern, die sich gegen meine Missverständnisse ohnehin nicht mehr wehren können? Ich will neue Menschen kennenlernen, wachsen, lernen! Und nicht nur von Toten! Nicht mehr nur aus dem Wort für das Wort denken! Kant ist tot - Katharina lebt!

Gleichzeitig ist mir bewusst, dass das Eis, das meine Seele umschließt, sich vielleicht niemals ganz zerbrechen lassen wird, schon gar nicht mit einem dramatischen Effekt, der Tränen in die Augen eines unparteiischen Beobachters zu treiben vermöchte. Das ändert aber nichts daran, dass ich dieses Eis erhitzen und zum Schmelzen bringen kann, wenn auch immer nur in geringem Umfang. Es wird nicht leicht werden, so viel ist sicher. Aber letztlich habe ich keine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen - und ich bin froh darüber. Diese Woche war die beste des gesamten Jahres, auch einiger aufmunternder Kommentare wegen. Danke dafür!