Samstag, 15. Dezember 2012

Selbstüberschätzung

Ein Grund für die Selbstüberschätzung ist sicherlich darin zu suchen, dass wir über uns selbst immer mehr  „wissen“  als über alle anderen Menschen. Das Wenigste, das wir einander sagen könnten, sprechen wir tatsächlich aus; das meiste bleibt ungesagt. Und selbst die Gedanken, die es schaffen, geboren und ausgesprochen zu werden, erwecken oft nicht den Eindruck, aus irgendeiner Tiefe geschöpft zu sein. Daraus allerdings zu schließen, dass der andere tatsächlich so arm, so beschränkt und phantasielos ist, wie es seine Rede vermuten lässt, hieße, sich einer optischen Täuschung hinzugeben. Wer wäre denn immer fähig, das auszusprechen, was seine Seele konvulsieren lässt? 

Das Schweigen, das selbst aus der lebhaftesten Kommunikation herausgehört werden kann, sollte uns nicht dazu verleiten, zwischen uns und den anderen essentiell zu unterscheiden. Weil sich jemand nicht gut ausdrücken kann, heißt das noch lange nicht, dass er nichts in sich fühlte, dass es wert wäre, ausgedrückt zu werden. Das hört sich einleuchtend und menschlich warm an; letztlich ist aber ungewiss, was in einem solchen Menschen vorgeht. Er existiert für jemanden, der auf diskursive Rationalität steht, oft gar nicht. Die Verachtung des „großen Haufens“, wie sie in vielen philosophischen Texten der Tradition zu finden ist, legt davon ein unrühmliches Zeugnis ab. Schopenhauer ist ein gutes Beispiel, weil er mit größter Naivität dem Gefühl seiner Genialität Ausdruck gibt, während er auf der anderen Seite über den gewöhnlichen Mann, diese „Fabrikware der Natur“ ablästert.

Ich denke nicht, dass es zwischen den Menschen so große Unterschiede gibt, wie man leicht meinen könnte. Dass wir so sehr zwischen ihnen unterscheiden, liegt eben an der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksformen und ihres Schweigens. Es wäre jedoch unredlich, diese Verschiedenheit in das Sein selbst hineinzudichten. Es gibt keine flachen oder tiefen Menschen. Manchen können sich eben so auszudrücken, dass man sie für tief hält, das ist alles. Wer an tiefe Menschen glaubt, denkt flach.

2 Kommentare:

  1. Mal abgesehen vom "schwätzenden Ego", dass sich gern aus der Masser emporhebt in dem es andere erniedrigt, sind Unterschiede im "erfühlen" leicht zu beobachten. Was den einen in schiere Verzweiflung treibt, ist dem anderen nicht mal ein müder Augenroller wert.

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  2. hm. wieder ein sehr interessanter text. ich kann dem meisten auch durchaus zustimmen, jedoch glaube ich schon, dass es menschen gibt, die tiefer sind als andere. manche menschen leben absichtlich oder unabsichtlich mit einem horizont, der weniger weit ist, als der anderer menschen. das ergibt sich allein schon daraus, dass allen menschen grundsätzlich erfahrungen fehlen, die andere gemacht haben. so ist dies also nichts schlimmes. es ist sogar sehr nützlich. wenn man relativ wenig nachdenkt, hinterfragt und misstraut, lebt man angenehmer. es ist der weg, den einige für sich wählen. meiner ist es nicht.

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