Dienstag, 2. Oktober 2012

Zerknitterte Gesichter

Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein. (Kafka)

"Es ist eben so." Man schaue sich die Gesichter genau an, über deren Lippen diese Worte kommen. Verraten ihre Züge nicht eine geheime Wut, einen unausgesprochenen Zorn auf jene, die es wagen, einfach weiterzufragen, wo sie sich der Antwort schon sicher wähnten? Nietzsche hat den Menschen das nicht festgestellte Tier genannt. Es ist nicht festgestellt, aber es strebt danach, sich festzustellen, um endlich zu erkennen, was es sei, was es tun solle, warum es lebe. Doch jede Antwort, die es erhält, ist immer nur seine eigene; die Natur schweigt, was immer der Mensch auch in sie hineindichten mag.

Das, was wir für unseren Charakter halten, ist nicht einfach vorhanden. Vielmehr wollen wir, dass da etwas wie ein Charakter sei, damit die groben Finger unseres Verstandes etwas zum begreifen haben. Die Begierde, etwas zu sein, ist das ganze Sein. Tiefer reicht das Wasser der Identität nicht; wir können in ihm nicht ertrinken. Jeder, der "Ich bin ..." sagt, gleicht einem bequemen älteren Herrn, der sich in sein Sofa fallen lässt. "Ich bin eben der und der. Daran kannst auch du nichts ändern." Mit einer solchen Haltung mag man sich einige Zeit lang gut über Wasser halten. Sie wird einem aber spätestens dann auf den Kopf fallen, sobald man einzusehen beginnt, dass man sich eigentlich nicht ernst nehmen kann, solange man sich als etwas Nun-einmal-so-Seiendes begreift. Nur der Stein ist, was er ist, und zwar souverän und ohne zerknittertes Gesicht.

1 Kommentar:

  1. Wundervoller Text. Exakt das ist es. Exakt das...
    "Ich bin eben/nun einmal/ja übrigens..." - so beginnt selten etwas, was mit wirklichem Nachdenken oder Durchdringung zu tun hat...

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