Mittwoch, 7. November 2012

Normalität

Normalität ist das Ideal der Mittelmäßigen (Jung). Ich halte es für sehr wichtig, diesen Satz immer wieder zu wiederholen, um auch den Schmerz immer wieder neu entstehen zu lassen, den er in den Herzen so vieler Menschen verursacht. Denn dies ist der Schmerz, aus dem Erkenntnis geboren wird. Diese Operation kann nur ohne Narkose gelingen.

Wer von sich sagt, dass er nur ein normaler Mensch sei, sagt: Von mir geht keinerlei Gefahr für eure zahmen Haustierseelen aus, weil ich selbst eine zahme Haustierseele bin. Seine oft schon zur mechanischen Denkgewohnheit erstarrte Orientierung am Normalen, Gewöhnlichen und ohne jede Phantasie Vorhersehbaren verunmöglicht es dem Menschen, zu seinen wahren Kräften vorzustoßen. So bleibt er zeitlebens eine halbherzig hingekritzelte Andeutung dessen, was er hätte werden können. Er begnügt sich damit, das Beispiel eines normalen Menschen abzugeben, weil ihn die Vorstellung, dass er ein anderes Menschsein leben könnte, ängstigt.

Unter hundert Menschen wird man nicht einen finden, der gänzlich normal wäre. Stattdessen wird man die Bekanntschaft mit hundert vollkommen unterschiedlichen Individualitäten gemacht haben. Vielleicht könnte man "normal" mit "unspezifiziert" gleichsetzen. Die Idee der Normalität muss sich jedoch in einer konkreten Individualität verkörpern, damit die Rede von einem normalen Menschen überhaupt Sinn machen kann. Menschen existieren jedoch ausschließlich als spezifizierte Wesen - und können schon deshalb niemals nur normal sein. "Finde dich endlich damit ab, dass du etwas Besonderes bist", sollte man jedem zurufen, der für sich ein Höchstmaß an Eigenschaftslosigkeit anstrebt.

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