Sonntag, 14. Oktober 2012

Der Gummifarmer

Der Gummifarmer ist überzeugt, dass diejenige Gesellschaft die aufgeklärteste ist, in der am meisten rumgenölt wird. Das Glück könne nicht das Kriterium der aufgeklärtesten Gesellschaft abgeben, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, weil es keinen Konsens darüber geben könne, was es mit dem Glück eigentlich auf sich habe. Und wolle man sich darüber verständigen, sei der Keim des Rumnölens bereits gelegt. Wo man das Glück ernst nehme, werde über das Glück genölt, unausweichlich. Das kategorische Rumnölen, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, sei das einzige Prinzip, dem er sich verantwortlich fühle. Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer zur Jauchegrube, um sein Kübelchen bis zum Rand mit Scheiße zu füllen. Der Hahn kräht. "Boah, halt die Fresse!", denkt der Gummifarmer, der sein Kübelchen abstellt, um noch einmal zur Scheune zu eilen. Er hat seine Gummistiefel vergessen. Mit den Gummistiefeln an den Füßen fühlt er sich gleich viel besser. "Ich gehöre weder dem linken noch dem rechten Spektrum an", lässt er das Huhn wissen, das in einiger Entfernung gleichgültig pickt, "mein Reich ist die Schmollecke." Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer mit dem Kübelchen voller Scheiße durch das Dorf, bis er endlich beim Haus des Dorfschuhmachers angekommen ist. "Dorfschuhmacher, zeige dich! Heute tragen die Leute im Dorf Gummistiefel. Du bist abgewirtschaftet!" Der Dorfschuhmacher tritt vor seine Tür, dabei begleiten ihn seine Frau, seine zehn Kinder (fünf Männer, fünf Frauen) und seine siebzehn Enkelkinder. Auch die Lehrlinge des Schuhmachers zeigen sich; es sind insgesamt vier (einer ist betrunken). Der Äpfler und der Birner, die sich ansonsten überhaupt nicht riechen können, stehen vereinigt durch ihre Neugier am Zaun, um sich die Forderungen des Gummifarmers anzuhören. Auch ihre Frauen und Kinder glotzen aus den Fenstern der Nachbarhäuser herüber, andere strömen auf die Straße, um dem Gummifarmer aus nächster Nähe zu sehen. Nach wenigen Minuten scheint das ganze Dorf auf den Beinen zu sein.

Die Blicke des Gummifarmers und des Dorfschuhmachers kreuzen sich. Vielen kommt es vor, als ob die Erde leicht bebte, so intensiv sehen sie sich an. Endlich löst sich der Dorfschuhmacher aus dem Kreis seiner Familie und geht ruhigen Schrittes auf den Gummifarmer zu. "Tu' es nicht!", fordert er den Mann auf, der ihm herausfordernd sein bis zum Rand mit Scheiße gefülltes Kübelchen entgegenstreckt. Er tut's. Er gießt das Kübelchen ins Gebüsch am Rande jenes Weges aus, an den auch das Haus des Dorfschuhmachers grenzt.

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