Donnerstag, 31. Januar 2013

Wir gehen schon mal

Er sitzt am Tisch und redet über Gott und die Welt. Darunter macht er's nicht. Es gibt eine Form des Redens, die verletzt, weil sie ein Schweigen über so viele andere Dinge beinhaltet, könnte ein auktorialer Erzähler an dieser Stelle Brecht zärtlich plagiierend einwerfen. Seine Frau ist gereizt, leidet, will weg. Sie würde ihm am liebsten sagen, dass sie sich unwohl fühle, mit ihm ausgerechnet über Politik zu reden. Doch dann schaut sie ihm in die Augen und erahnt das Feuer, das ihn antreibt, mit einer solchen Dringlichkeit über Schuldenprobleme zu reden. Sie sendet einige Zeichen ihres Unwohlseins, denn es tut ihr weh, ihm zu widersprechen. Denn sie müsste ihm sehr oft widersprechen, so oft, dass ihre Beziehung darunter leiden und sehr bald zerbrechen müsste. So schweigt sie weiter und er redet weiter. So schweigt sie an ihm vorbei, während er an ihr vorbeiredet. Die 8-jährige Tochter sitzt daneben und versucht den Ausführungen des Vaters zu folgen. Sie versteht nichts; und sie fragt auch nicht nach, ob er es ihr verständlicher erklären könne, denn sie weiß, dass er es nicht kann, und dass auch sie sein Reden nicht zu bändigen vermag. Gerne würde sie sich mit ihrer Mutter unterhalten - die beiden verstehen einander sehr gut -, aber dann fühlte sich der Vater allein gelassen. Allein mit seinem Reden, mit seinen Themen, die vielleicht sonst niemand mit einer solchen Kleinteiligkeit durchdrungen hat. Er arbeitet bei einer Bank, kennt alle Zusammenhänge, weiß, wie der Hase läuft. Aber er sieht nicht, dass es seiner Frau schlecht geht, er hat überhaupt kein Organ für die vielen feinen Signale ihres Unwohlseins, ja er fasst ihr angesträngtes Lächeln sogar als Zustimmung, als Aufmunterung auf, noch intensiver über Finanzbuchhaltung zu reden.

Endlich kommt ein Kollege vorbei, mit dem der Mann auf Augenhöhe reden kann. Seine Frau atmet durch, sie muss kein Interesse mehr heucheln. Zwar versucht sie noch, sich halbwegs an der Diskussion zu beteiligen, doch ihr Widerwille ist stärker. Sie weiß nicht, wie sie anders als mit störenden Zwischenrufen in jenes ebenso lebhafte wie belanglose Gespräch eingreifen sollte. Immer tiefer versinkt sie in ihrem eigenen Schweigen, bis es sie ganz zu verschlingen droht. Sie streichelt ihrer Tochter durchs Haar, so als wäre darin irgendein Halt zu finden. Vergeblich sucht sie das Lächeln im Gesicht ihrer Tochter zu erwecken. Sie fühlt schmerzhaft, wie sehr ihr Wohlbefinden davon abhängt, dass ihre Tochter sie anlächelt. Doch die schaut sie ebenfalls mit suchenden Augen an. Sie scheinen zu sagen, dass die Mutter dieses väterliche Trauerspiel endlich beenden solle, um den Abend noch in ein gutes Ende überzuleiten. Mit einem Schlag wird der Mutter bewusst, dass sie ihre Tochter so angesehen hat, wie eine Tochter ihre Mutter ansieht. Erschrocken über sich selbst steht sie auf, um sich von ihrem Mann und dessen Kollegen zu verabschieden. "Wir gehen schon mal."

Dienstag, 29. Januar 2013

Sanctus Januarius

Der du mit dem Flammenspeere
Meiner Seele Eis zerteilt,
Daß sie brausend nun zum Meere
Ihrer höchsten Hoffnung eilt:
Heller stets und stets gesunder,
Frei im liebevollsten Muß: –
Also preist sie deine Wunder,
Schönster Januarius!

 
(Nietzsche)

Sonntag, 27. Januar 2013

Überunterirdisches

Es gehört auch zur Menschlichkeit, religiöse Gefühle zu verletzen. Die Welt wäre heute ein besserer Ort, wenn in der Geschichte mehr religiöse Gefühle verletzt worden wären, wenn man, anstatt vor dem Heiligen zu verstummen, es in den Dreck gezogen hätte.

Wie hätte ein Gott, der es nicht einmal verträgt, dass man über ihn lacht, die Kraft aufbringen können, eine Welt zu schaffen?

Vielleicht funktioniert die Religion nur deshalb, weil Gott immer schon tot ist. Dass er niemals antwortet und die Gebete erhört, macht gerade seine Zuverlässigkeit aus. Gott ist in seinem Schweigen sehr konsequent, konsequenter als jeder Sterbliche jemals sein könnte. Man weiß, was man hat, wenn man die Hände faltet: ein konsequentes Nichts. Wenn es Gott wirklich gäbe und er also auch zu antworten vermöchte könnte er den Gläubigen widersprechen. Aber würden sie das Wort eines lebendigen Gottes akzeptieren? Wenn er den Gläubigen geböte, nicht mehr an ihn zu glauben? Könnten sie ihm folgen? Wäre sie dazu überhaupt in der Lage? Solange Gott schweigt, kann man aus seinem Schweigen heraushören, was immer man will. Was aber, wenn er mit einer Zunge spräche?

Dienstag, 22. Januar 2013

Altdamenterror

Der soziophobe Student krümmte sich vor Hunger in seinem Bett. Es half alles nichts; er musste all seinen Mut zusammennehmen, um einkaufen zu gehen. Damit ihn niemand in die Augen sehen konnte - jede Gefühlsansteckung gedachte er zur vermeiden -, trug er eine Sonnenbrille, obwohl der Wintermorgen in seltener Schönheit erglänzte. Endlich hatte er seine Stiefel geschnürt. Er atmete tief durch, öffnete die Tür und trat - zum ersten Mal seit fast einer Woche - aus seiner Wohnung. Als er die Treppen hinunterstieg, zuckte er plötzlich zusammen. Er hatte gehört, wie sich ein paar ältere Damen vor der Haustier unterhielten. Seine beständige, schon lange jeder äußeren Ursache ermangelnde Ängstlichkeit hatte dem Student ein überaus feines Gehör angezüchtet, das nun Alarm schlug. Diese Frauen blockierten den Eingang. Um aus dem Haus zu kommen, dachte der Student, müsse er sie freundlich fragen, ob sie ihn durchlassen könnten. Dem Studenten spritzte der Schweiß nur so aus den Poren und sein Herz begann zu hämmern, als er sich dieses Höllenszenario imaginierte. Er flüchtete zurück in seine Wohnung, um sich zu beruhigen. Vorsichtig hob er die Gardine hoch, um einen Blick auf die Damen zu werfen. Er erkannte Erika, auch Oma Edel genannt, mit der er sich sogar schon einmal unterhalten hatte. Oma Edel hatte sich wirklich mit ihm unterhalten, während der Student immer nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Weil Oma Edel offenbar nicht bemerkt hatte, dass der Student, anstatt sich wirklich mit ihr zu unterhalten, nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten, sympathisierte er mit ihr. Mehr jedenfalls als mit den anderen beiden Damen der Runde. Mit ihnen hatte der Student immer nur Grußworte gewechselt. Er glaubte, dass sie spürten, dass mit ihm etwas nicht stimmen könne. Dieser Glaube vergrößerte seine Angst um ein Vielfaches. Wenn Oma Edel allein vor der Tür gestanden hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, endlich den Wohnblock zu verlassen und einkaufen zu gehen. So aber sah er sich außerstande, vor die Tür seiner Wohnung, geschweige denn vor die Tür des ganzen Wohnblocks zu treten.

Die Damen plauderten gesellig vor sich hin, während der Student im Sessel saß und betete, dass sie endlich aufhören mögen. Immerhin standen die Feiertage vor der Tür und die nächste Tankstelle lag zu weit entfernt, als dass er sie ohne ein Nervendrama hätte erreichen können. Aber irgendetwas musste er doch beißen, wollte er nicht eingehen. Verzweifelt sah er sich in seiner Wohnung um. Aus den Zimmerpflanzen könnte er Tee kochen, dachte er. Doch wovon sollte er sich ernähren?

Nach drei Stunden ging er noch einmal an das Fenster, getrieben von der Hoffnung, der Spuk möge vorbeigegangen sein. Doch zu seinem Entsetzen hatte es sich vermehrt: Jetzt standen vier statt drei ältere Damen gesellig plaudernd vor der Tür des Wohnblocks. Ilse, die unvermeintliche Frau des Hausmeisters, hatte sich auch noch eingefunden, um ihren Wortsaft zu entladen. Ihre ungezähmte und wohl auch unzähmbare Altdamengeschwätzigkeit war im ganzen Block und selbst im Nachbarblock berüchtigt. Wenn sie die Tür blockiert, dachte der Student, werde ich hier niemals herauskommen. Natürlich war auch Ilse eine im Grunde gutherzige Frau, die dem Studenten niemals etwas Böses angetan hätte. Der Gedanke jedoch, dieser Frau in die Augen sehen und sie grüßen zu müssen, überwältigte ihn. Das konnte er nicht. Ihr lebensfrohes Auftreten allein schon hätte genügt, um ihn bis auf den nackten Knochen zu verängstigen. Keinen Menschen fürchtete der Student mehr als Ilse. Doch worüber sprach diese gefürchtetste aller älteren Damen?

"Wir kippen unsere überschüssigen Nahrungsmittel weg und in Afrika verhungern die Kinder. Das ist furchtbar, furchtbar, sag ich dir", sagte sie zu Oma Edel, die ihr heftig nickend zustimmte. Der Student trat mit schwächlich schwankendem Schritt auf seinen Balkon. "Furchtbar, allerdings", säuselte er in einem Anflug von Zynismus, der sich ebenso schnell wieder verflüchtigte wie er gekommen war, und stürzte sich aus dem dritten Stock in die Freiheit. 

Samstag, 19. Januar 2013

Erziehung zur Unmündigkeit

"Die Kinderarbeit schafft sich selbst ab. Denn durch Kinderarbeit entwickelt sich die Wirtschaft. Und wenn die Wirtschaft wächst, steht mehr Geld zu Verfügung, um bessere Löhne zu zahlen, so dass keine Kinder mehr arbeiten müssen." So ungefähr argumentieren die jungen BWL-Studenten, mit denen ich Bekanntschaft machen dürfte. Der Grundtenor ist der eines "Es ist traurig, aber ...". In diesem "aber" steckt die ganze Perfidie, denn auf ihm liegt das Schwergewicht der Argumentation, nicht auf der vermeintlichen Trauer. Wie gesagt, es sind sehr junge Menschen, die so argumentieren, und sich wohl darin gefallen, ihren gerade erst erwachten Verstand auf die verschiedensten Bereiche auszudehnen. Wer auf neoliberal macht, widerspricht dem Zeitgeist. "Es ist schon theoretisch nicht möglich, alle Menschen auf der Welt zu ernähren." Und was folgt aus dieser "traurigen" Feststellung? Überlegungen darüber, was dennoch getan werden könnte, habe ich keine gehört. So jung - und schon so resigniert? Mir scheint, dass der tägliche Verkehr mit globalen Thematiken allzu leicht abstumpft und verdummen kann, besonders dann, wenn es um wirtschaftliche Themen geht. Die Wirtschaft, die Politik, die Griechen, die Bayern - ein einziges großes Sich-wichtig-Nehmen, immerhin schwadroniert man ja über wichtige Themen.

Sie haben mir auch von ihrem Studium erzählt. Von Dozenten, die Studenten wie kleine Kinder vor die Tür werfen, weil sie nicht der Vorlesung folgen, von Multiple-Choice-Klausuren, die maschinell kontrolliert werden, vom Bestreben der Verantwortlichen, möglichst viele Studenten auszusieben, um die gewünschte Durchfallquote zu erzielen, davon, dass ein BWL-Student nicht ein einziges Seminar besuchen kann, er also schon institutionell nicht die Möglichkeit bekommt, einmal etwas Eigenes zu äußern. Diese Studenten fühlen sich unglaublich unter Druck gesetzt. Sie sind sehr unzufrieden mit ihrem Studium. Aber sie wollen eben etwas studieren, "womit man etwas anfangen kann", um jeden Preis. Und sie bezahlen diesen Preis. Ich habe kein einziges kritisches Wort gehört. Das überrascht mich nicht. Das BWL-Studium scheint eine Erziehung zur Unmündigkeit zu sein.

Dienstag, 15. Januar 2013

Ein echter Kerl sein

Je mehr ich über die Männlichkeit nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass sie nicht existiert. Schon Formulierungen wie "ein echter Kerl sein" verweisen darauf, dass Männlichkeit nicht nur auf etwas Natürliches zurückgeführt werden darf, sondern immer auch als Aufgabe betrachtet werden muss. Wer als echter Kerl gesehen werden will, muss ein bestimmtes Verhalten zeigen und bestimmte Auffassungen teilen. Mit anderen Worten: Männlichkeit in diesem Sinne beinhaltet immer auch, einen Mann zu spielen, so zu tun, als sei man einer. Es ist seltsam, wenn man bedenkt, wie sehr viele Männer darum bemüht sind, als einzigartige Individuen zu erscheinen, in Fragen der Männlichkeit jedoch nur eines wollen, nämlich dem Virilitäts-Ideal möglichst nahe zu kommen. Solange man indes ein echter Kerl sein will, ist man keiner. Die Lösung des Problems der Männlichkeit kann also nur darin bestehen, dieses Problem fahren zu lassen. Nur das Besondere kann die Wunden heilen, die das Allgemeine reißt.

Wie viel innige Freundschaft mag zwischen den Männern nicht entstanden sein, weil sie fürchteten, für homosexuell gehalten zu werden? Homophobie ist kein Phänomen, unter dem nur eine gesellschaftliche Minderheit litte. Denn sie erschwert allen von ihr Betroffenen, erwachsen zu werden.

Montag, 14. Januar 2013

Mehr seufzend als leidend

"So gärt sie munter weiter, diese Mischung aus tausend Giften und Abfallstoffen, aus denen meine Seele zusammengebraut ist." Ich war im Begriff, einen Text mit diesen Worten zu eröffnen. Doch ich konnte ihn nicht fortsetzen. Auch wenn ich diesen ästhetisierenden Dekadenzduktus gut beherrsche, sollte ich ihn schleunigst verlernen. Er drückt schon lange nicht mehr aus, was in mir vorgeht, was ich bin. So kommt es, das sich dieser gerade erst niedergetippte Satz in Anführungsstriche gesetzt wiederfindet, in welchen er - mehr seufzend als eigentlich leidend - wie ein schwarz gefärbter Emo-Löwe in seinem Gehege umherschweift.

Man erweckt leicht den Eindruck, ein verständiger Mensch zu sein, wenn man immer nur über Dinge redet, mit denen man sich auskennt.

Es sich hoch anzurechnen, jemanden zu tolerieren, ist ein sicheres Zeichen von Hochmut.

Solange du dich zwingen musst, hast du noch nicht verstanden.


Samstag, 12. Januar 2013

Nachahmung

Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. (Adorno)

Ich kann gar nicht schreiben. Aber ich tue so, als ob ich schreiben könnte. Außerdem ahme ich jene nach, die schreiben können. Irgendwann sagte mir jemand: So wie du will ich das auch einmal können! "Sehr gut", versetzte ich, "dann ahme mich nach, so wie auch ich immer nur nachgeahmt habe!" Es bedarf keines besonders ausgefallenen Verhaltens oder eines originellen Stils, um als sogenannte Persönlichkeit in Erscheinung zu treten. Die Weise, wie man nachahmt, reicht vollkommen aus. Sie offenbart die ganze Individualität.

Es gilt als charmant, jemandem zu sagen, er oder sie sei eine inspirierende Persönlichkeit. Genauso gut könnte man ihm oder ihr allerdings auch folgende Worte zuflüstern: "Ich halte es für äußerst lohnenswert, dich zu kopieren." Im Grunde müsste man drei mal leben, um im dritten Versuch vielleicht einmal weise genug zu sein, nicht mehr improvisieren zu müssen. Aber wir leben nur einmal. Wir wissen nicht, was das alles soll. Deshalb ahmen wir jene nach, die auf uns den Eindruck machen, sie wüssten, worauf es in diesem rätselhaften Dasein ankommt. Und auch diese haben sich - man ahnt es - schon bei anderen abgeschaut, wie man einen solchen Eindruck erwecken kann. Ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert - und von ihnen abschreibt. 

Donnerstag, 10. Januar 2013

Erst einmal darüber nachdenken (Dialog)

Emil: Ich verstehe nicht, was man der Skepsis vorwerfen könnte. Für mich gehört sie zur geistigen Hygiene einfach dazu. Warum ziehen es die Menschen vor, sich selbst einzulullen und ihre Köpfe in die Wolken zu stecken, anstatt die Dinge so zu sehen, wie sie sind? Ich finde das unredlich.

Sophia: Ich treffe viele Menschen, deren Ansichten sich oft gravierend unterscheiden. Solange ich jedoch das Gefühl habe, es mit einem guten Menschen zu tun zu haben, werde ich mich hüten, einen Streit über Meinungen loszutreten. Das ist mir dann einfach nicht wichtig.

Emil: Was aber, wenn dieser Mensch von vollkommen irrigen Prämissen ausgeht, die den Stolz deines Verstandes verletzen müssen? Kann ein Mensch gut sein, der es nötig hat, an Unsinn zu glauben? Und selbst wenn er nicht daran glaubte, wäre es dir nicht unerträglich, ihm nicht zu widersprechen?

Sophia: Ehrlich gesagt interessiert es mich nicht allzu sehr, von welchen Prämissen ein Mensch ausgeht. Natürlich widerspreche ich auch, aber nur dann, wenn ich glaube, dass jemand Dinge sagt, die ich nicht tolerieren kann. An einer geistigen Hygiene, wie du sie verstehst, bin ich nicht interessiert. Wenn mir an ihr gelegen wäre, hätte ich viele bereichernde Gespräche bereits im Keim abtöten müssen. Und wozu?

Emil: Du bist eben ein Mensch, der es nicht so genau nimmt. Solange du meinst, dass es der andere gut mit dir meint, bist du bereit, ihm zu folgen. Ich denke, dass das Falsche immer von Übel ist, ganz gleichgültig, ob ich mit demjenigen, der es ausspricht, sympathisiere oder nicht. Man kann das Gute nicht ohne das Wahre erlangen!

Sophia: Das ist schön gesagt. Was aber, lieber Emil, soll ich mir nun unter dem Wahren vorstellen? Was mich an den Auffassung der Menschen interessiert, ist doch, dass sie mir ganz verschiedene Antworten auf diese eine Frage geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nur eine Meinung wahr sein könnte, während alle anderen falsch sind. Wenn sich die Wahrheit damit zufriedengäbe, sich in nur einer Formel einfangen zu lassen, müsste ich wohl Partei gegen sie ergreifen - zum Wohle all der Menschen, die ich liebe.

Emil: Wenn du dich für die Wahrheit nicht interessierst, interessierst du dich letztlich auch nicht für das, was die Menschen sagen, sondern bloß dafür, dass sie überhaupt mit dir sprechen. So schätze ich dich jedoch nicht ein. Auch jetzt versuchst du doch, mich von deiner Sichtweise zu überzeugen.

Sophia: Ich will dich nicht überzeugen. Was hätte ich davon? Mir liegt nur daran, dass du verstehst, was mir wichtig ist. Wenn es dir schlecht geht, brauchst du irgendeine Krücke, zum Beispiel den Satz eines Philosophen, um dich wieder aufzurichten. Deshalb bist du vielleicht auch so auf Wahrheit fixiert. Ich verstehe das nicht. Als ob die Wahrheit davon abhinge, ob ein Satz wahr oder falsch ist! Als ob alles Wohl und Wehe an einer einzigen Konklusion hängen könnte! Das hat für mich nichts mit Redlichkeit zu tun, eher mit so etwas wie Verstocktheit. 

Emil: Verstocktheit? Willst du mich moralisch disqualifizieren, weil du mich in einem vernünftigen Gespräch nicht zu überzeugen vermagst? Das ist keine gute Angewohnheit von dir, das habe ich dir schon oft gesagt.

Sophia: Und ich habe dir immer wieder widersprochen. Du kannst jemanden, der sich zu Recht aufregt, nicht einfach als dämlichen und unbeherrschten Menschen dastehen lassen. Deine kühle Distanziertheit werde ich wohl niemals erreichen. Aber ich brauche sie auch nicht. Alle meine Hoffnungen tragen die Namen lebendiger Menschen. Menschen, von denen ich weiß, dass sie zu mir stehen. Was nützt mir alle Wahrheit dieser Welt, wenn ich alleine dasäße und es mir dreckig ginge? Ich verstehe nicht, wie man sich mit irgendwelchen zusammengesuchten Maximen und Lebensregeln über Wasser halten könnte!

Emil: Was hält dich über Wasser, Sophia?

Sophia: Warum stellst du mir ausgerechnet diese Frage? Die Menschen natürlich. Sie sind alles, was ich habe.

Emil: Alles? Echt? Darüber muss ich, glaube ich, erst einmal nachdenken.

Rückzug

Du bist sehr schnell sehr weit vorausgestürmt, um deine Fahne in den weichen Sand zu stoßen. "Ja, es ist wirklich so einfach!", hast du in alle Welt hinausgeschrien. Aber keine Sau interessiert sich für den Grund deiner ungestüm wuchernden Euphorie. Du hast gedacht, die Entscheidung herbeigeführt zu haben. Nun allerdings, da sich deine Säfte längst wieder abgekühlt haben, dämmert dir, dass du in die Falle deiner eigenen Hoffnung gelaufen bist. Die Flut kommt; du wirst dich mitsamt deiner Fahne davonstehlen müssen. Selbst wenn du der aufsteigenden Linie des Lebens wieder angehören solltest, bleibt dir nichts anderes übrig, als jetzt den Rückzug anzutreten. Doch obwohl deine Füße schon nass sind, lächelst du.

Wenn man das Leben wie ein Spiel betrachtet, in dem es darum geht, den verborgenen Sinn einer jeden Niederlage aufzudecken, existiert es sich gleich viel besser. Um dieses Spiel zu gewinnen, wirst du dir die ein oder andere Pleite einhandeln müssen. Nein, du bist niemand, der das Scheitern fürchtete. Vielmehr sehnst du es herbei, um ihm endlich den Schrecken austreiben und die Perspektive aufbrechen zu können. Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren. Dass fühlst du in dieser Nacht sehr distinkt. Und am Tage?

Montag, 7. Januar 2013

Vergangenheit

Wähntest du etwa, ich erriete die Repressionen nicht, die du deiner Seele hast antun müssen, um diese weisen Worte zu sprechen? "Der Vergangenheit gewachsen sein" - das heißt meist nur: sie umschreiben, sie so umerzählen, dass das Schlechte in ihr als Überwundenes auftritt, als etwas, das nicht mehr der Fall ist. Man erzählt gerne über seine schlimme Vergangenheit, wenn man das Gefühl hat, dass sie tatsächlich vergangen ist, eben etwas, dass man mit Ruhe und Rührung betrachten kann. Vielleicht kann man nur mit dem Blick des Erkennenden schmerzfrei nach dem Gewesenen zurücksehen.

Freitag, 4. Januar 2013

Differenzen

Die Menschen sind verschieden. Aber was folgt aus dieser Verschiedenheit? Ich wage die Behauptung, dass uns jeder Gedanke schmerzt, der diese Verschiedenheit verabsolutiert. Ob Rassenhass, Neid, Scham, Konkurrenzstreben oder Bosheit, bei all diesen Phänomenen gelingt es dem von ihnen beherrschten Menschen nicht, die Differenz zwischen sich und den anderen zu überbrücken: Er ist allein. Natürlich gibt es auch vielfältige Weisen, die Differenz offensiv zu denken. Manchmal macht es Spaß, jemanden, den man nicht leiden kann, leiden zu sehen. Jeder sportliche Wettkampf lebt davon, dass es Sieger und Verlierer gibt. Den gegnerischen Spieler oder die gegnerische Mannschaft niederzukämpfen, ist irgendwie schön. So ernst man den Sport jedoch auch nehmen mag, er ist nur ein Spiel. Das heißt, dass die Differenz zwischen den Sportlern nur scheinbar gesetzt wird. Eigentlich kann man gut miteinander, auch wenn man sich auf dem Spielfeld gerade umgetreten hat. Es ist ein großer Fortschritt, wenn sich Völker, anstatt übereinander auf Schlachtfeldern herzufallen, sportlich bekämpfen.

Jeder Wettkampf beruht auf etwas Objektivem, sonst könnte es keinen Sieger geben. Im Seminar gibt es kein objektives Kriterium dafür, wer Recht hat. Ergo: Man schwätzt. Hitzige Debatten mögen interessant sein; die Hoffnung jedoch, den anderen durch die bloße Kraft der Argumente umzustimmen, ist naiv. Ich habe noch niemals erlebt, dass sich jemand im Seminar hat überzeugen lassen. Wenn es kein objektives Kriterium für eine Niederlage gibt, warum sollte man sie sich dann jemals eingestehen? Man kann ja immer weiterreden.

Man kann sich nur mit einem Menschen vergleichen, sofern man ihn auf gewisse Aspekte reduziert, etwa das Äußere oder die Intelligenz. Nur in Bezug auf einzelne Aspekte kann ein Mensch besser als ein anderer sein. Jeder schmerzliche Gedanke zergliedert den Menschen in Aspekte, mit anderen Worten: Er bringt ihn um. Wenn ich neidisch bin, neide ich etwas, das der andere hat. Wenn ich jemanden um sein Äußeres beneide, reduziere ich mich auf meine Hässlichkeit. Wenn ich mich aufgrund meiner kaukasischen Haut überlegen fühle, abstrahiere ich freiwillig von mir. Um mich besser als ein anderer zu fühlen, muss ich mich selbst zuerst zugerichtet, reduziert, vereinfacht, ja im Grunde lächerlich gemacht haben. Es mag schön sein, einen anderen  scheitern zu sehen. Ist diese Freude jedoch allzu groß, verrät sie innere Armut. Ob man gewinnt oder verliert, letztlich ist man immer noch etwas mehr als bloß ein Sieger oder Verlierer, nämlich ein konkreter Mensch.

Der gütige Mensch interessiert sich gerade für Differenzen. Er neidet die Schönheit eines Menschen nicht, sondern will ihn noch ein wenig schöner machen, indem er ihn zum Lachen bringt. Wir sind Künstler, die einander verschönern. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man die Differenzen sucht, um sie zu genießen. Mit den eigenen Leuten kann jeder gut. Interessant wird es jedoch, wenn man neue Menschen kennenlernt. Güte ist das Wohlgefallen an der Individualität des anderen. Jeder Gedanke, der das Band zwischen uns wieder knüpft und befestigt, füllt unsere Herzen mit Freude und Zuversicht. Ja, das ist wirklich so einfach!