Donnerstag, 23. August 2012

Der jüngste Morgen

Dieser Morgen sollte nicht ungesehen vorüberziehen. Wenn sie schon nicht einzuschlafen vermochte - sie hatte eine Geschichte gelesen, die so widerlich war, dass sie aus Angst vor ihren Träumen wachliegen blieb -, wollte sie wenigstens gemeinsam mit der Sonne aufstehen. Wie lange war es her, fragte sie sich, dass sie sich diesem natürlichsten aller ästhetischen Genüsse hingegeben hatte? Viel zu lange, befand sie und entschlüpfte vorsichtig, teils bedrückt über die vielen unbestaunt dahingezogenen Sonnenaufgänge, derer sie nun gewahr wurde, teils dankbar, dem jüngsten Morgen beiwohnen zu dürfen, dem Bett, in welchem ihr Freund seinen Rausch ausdelirierte. Um ihm zu sagen, dass sie sich von ihm trennen werde, musste sie ihre abgemagerte Seele mit Schönheit stärken. Sie war es leid, einen Freund zu ertragen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit in genau das verwandelt hatte, was sie am meisten hasste: in einen von denen. Nur solange unterschied er sich durch Witz, Intelligenz und Einfühlungsvermögen wohltuend von den anderen, wie er um sie geworben hatte. Es ist wie mit dem eingezogenen Bauch des Dicken, dachte sie: Irgendwann schwabbt es zurück.

Sie ging bedächtig, jeden ihrer Schritte wie eine Tänzerin ganz bewusst setzend, in den Park. Die Kühle der Nacht hing noch allen Dingen in den Kleidern, doch die ersten Sonnenstrahlen begannen schon die Umrisse des Birkenwäldchens nachzuzeichnen, das den Park umschloss. Bald würde der ganze Park in goldenem Licht leuchten, dachte sie lachend; irgendetwas musste die Dichterin in ihr hervorgekitzelt haben. Sie hielt den Arm ins junge Licht, um ihre golden glänzenden Härchen zu studieren, für die sie sonst keine Augen besaß. Als ein Jogger an ihr vorbeilief, lächelten sich die beiden zu, als wären sie in ein Geheimnis eingewoben gewesen, das der ausdelirierenden Menschheit entgehen musste.

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