Sonntag, 23. September 2012

Dieses Stöhnen

Ich dachte, dass sie sich erholt hätte und die von ihr bekundete Zufriedenheit echt wäre. Vielleicht war sie dies auch. Ich weiß nicht. Der Kleine hat schon seit drei Tagen nicht einschlaffen können, so groß ist seine Vorfreude auf den Wochenendausflug. Diese Lebenslust, das geht mir gerade durch den Kopf, wie ich hier im Bett liege und nachdenke, stärkt er sich immer nur bei mir; immer ist es unser Gelächter, das sich bis zur niveaubereinigten Albernheit hochschaukelt. Wie konnte ich das so lange übersehen? Wollte ich es nicht wahrhaben? Er sagt immer wieder, dass er seine Mutter liebe, aber wirklich Spaß hat er nur, wenn er mit mir zusammen ist. Immer sitzt sie auf der Bank, während wir spielen; sie liest ein Buch, schaut ab und zu zu uns herüber und lächelt. Aber was ist das für ein Lächeln?

Vielleicht schmerzt es sie sogar, unser Spiel mit ansehen zu müssen, scheint sie doch selbst immer mehr den Lebensmut zu verlieren. Zwar kämpft sie, bäumt sich auf, doch ohne jede Zuversicht, dass sie ihre Stimmungen jemals in den Griff bekommen könnte. Immer wird der Kleine still und nachdenklich, wenn er mit ihr in Berührung kommt, manchmal sieht es sogar so aus, als fürchte er sie. Lange sah ich das nicht und redete mir ein, dass diese Mutter-Kind-Beziehung nun einmal kompliziert sei. Aber das war sie nicht immer; sie ist es erst geworden.

Sie weiß gar nicht, wie sehr mich ihr Stöhnen trifft. Sicher ist sie sich dessen nicht bewusst, aber gerade dann, wenn ich denke, dass sich die Dingen zwischen uns zu bessern beginnen, entschlüpft ihr dieses Stöhnen, das mir augenblicklich jeden Mut aussaugt. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie die Zeichen ihrer großen Müdigkeit nicht zurückzuhalten vermag. Aber jeder Streit, ganz gleich, wie verletzend und hinterfotzig er sich auswachsen würde, wäre mir unendlich lieber, als dieses Stöhnen. Wo Streit ist, da ist noch Leben, da behauptet man sich und seine Überzeugungen versucht mit allen Mitteln, sie durchzusetzen. Sie streitet schon lange nicht mehr mit mir. Und auch mein Wille, sie zu necken und zu ärgern, ist wie weggeflogen. Ich habe nur noch Angst, ihr weh zu tun, und fürchte ihr Stöhnen über alles. Es hört sich wie ein Ausatmen an, ein letztes Ausatmen, dem kein Luftzug mehr nachfolgen wird, als ob sie ihre Seele aushauchte. Dass sich in diesem Stöhnen eine tiefschwarze Lebensphilosophie ausdrücke, ist so ein Satz, denn ich vor ein paar Wochen vielleicht noch dahergesagt hätte. Heute könnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Und ich kann mich nicht mehr ernst nehmen, wenn ich romantisiere, wo illusionslose Klarsicht Pflicht wäre.

Es sei ihr einziger Wunsch, dass wir glücklich seien - womit sie den Kleinen und mich meint -, sagt sie immer wieder, so als ob sie gar nichts zählen würde. Ich gebe ihr darauf nicht mehr zur Antwort, dass ich ihre Selbstlosigkeit schätzte, sondern fahre sie an. Um sie wachzurütteln und sie endlich aus ihrer gottverdammten Lethargie herauszureißen. Sie wird es aushalten, weil sie es ist, Gradiva, die Atmende und Vorwärtsschreitende. Sie muss es aushalten.

Der Mensch, der auf das Glück verzichtet, verfügt über die gespenstische Freiheit, alles zu denken und zu tun; er ist der geborene Relativist und Amoralist. Ich will kein solcher Mensch sein. Nicht mehr. Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt, und zwar unbedingt und ohne Abstriche. Unser Glück darf zu keiner schalen Erinnerung verkommen! Der Mensch muss es sich wert sein, nach dem Glück zu streben, das allein macht seine Würde aus - nur daraus entspringt sein Ernst und alle Weisheit, die diesen Namen verdiente.

1 Kommentar:

  1. das zu lesen macht mich traurig :-(
    ich wünsche dir kraft, um das weiter durchzustehen und hoffe, dass du dein glück nicht verlierst!!!

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