Mittwoch, 22. August 2012

Süße Blasphemien

Nur wer zu einem Christen wie zu einem Patienten spricht, der an Halluzinationen leidet, ihn also überhaupt nicht ernst nimmt, hat eine gute Chance, von seinem Sinn nicht infiziert zu werden. Man darf den Sinn gar nicht erst aufkeimen lassen.

Ich liebe die Desillusionierung. Vielleicht muss man einmal Christ gewesen sein, um die Wonnen des Atheismus voll auskosten zu können. Denn die Religion ist keine reine Verstandesangelegenheit: sie rührt an. Im Gegensatz zu einem Gedanken, den man als falsch verwerfen und nie wieder für voll nehmen kann, ist es ausgeschlossen, nicht mehr religiös zu empfinden, nur weil einem ein Glaubenssystem suspekt geworden ist. Mit nichts, das uns einmal innerlich bewegt hat, können wir vollständig abschließen. Deshalb ist es dem Selbstgenuss viel förderlicher, etwa, anstatt sich einzureden, mit all dem metaphysischen Krimskrams abgeschlossen zu haben, sich hin und wieder hochprozentige, radikal-atheistische Aufklärungsliteratur zu gönnen. Als alter Christ, der man schließlich immer bleiben wird, darf man da lesen, dass Gott nicht existiere, es keinen Himmel gebe, die Kirche eine korrupte Einrichtung sei, intelligente Menschen tendenziell weniger religiös seien etc. Diese Lektüren sind masochistisch, aber im besten Sinne masochistisch: Es gibt wenig, das dem Vergnügen gleichkäme, den kleinen Gott in sich zu kreuzigen. Ihm zuzurufen, dass er nicht der sei, für den er sich halte. Woraufhin er wild wird, denn wer würde sich schon als vermeintlicher Weltenschöpfer auf Arbeitssuche begeben wollen? Dieser kleine Gott kommt immer wieder zu Kräften, so als wäre er Prometheus' Leber. Eigentlich ist diese Praktik nicht masochistisch, sondern sadistisch, denn ich quäle nicht mich, sondern etwas, das ich gleichsam in mir von außen betrachte. Je mehr ich mich vom Glauben befreie, das heißt, je weiter ich mich von ihm entferne, ohne ihn jemals ganz hinter die Horizontlinie meiner Gefühle hinabdrängen zu können, desto süßer werden meine Blasphemien.

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