Donnerstag, 29. November 2012

Moralisieren

Wenn wir von jemandem sagen, dass er moralisiere, kritisieren wir ihn in der Regel. Diese Kritik ließe sich vielleicht so explizieren: Er weist eine Handlung als moralisch relevant aus, die es nicht ist. Das Feld, das wir ohne jeden bösen Gedanken betreten, betritt er aus uns unersichtlichen Gründen nicht: Er bleibt an einer Grenze stehen, die wir ohne weiteres überschreiten, ja womöglich nicht einmal wahrnehmen.

Wer moralisiert, so der Vorwurf, vermischt die Argumentationsebenen. Denn er argumentiert so, als ob es eine Moral gebe, die er unbedingt wahren müsste. Es ist jedoch keine Moral, die ihm vorschriebe, so oder so zu handeln, sondern er ist, aus welchen Gründen auch immer, nicht bereit, etwas zu tun, mit dem andere keine Probleme haben.

Der Moralisierende tut so, als habe er das Allgemeine auf seiner Seite, um nicht als besonderer Einzelner für sich sprechen zu müssen. Ihm dient die Moral als Schutzmantel. "Das tut man nicht", heißt es dann beispielsweise, nicht aber: "Ich tue das nicht". Das unpersönliche Man soll anzeigen, dass hier etwas überindividuell Relevantes ausgesprochen wird. Wer moralisiert, will zu verstehen geben, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dasteht. Wir sind nicht so rational, dass es uns gleichgültig wäre, wenn eine offenbar falsche Meinung viele Anhänger findet. Die Anzahl dieser Menschen allein schon, und sei sie nur eine imaginierte, wird ausreichen, um uns zu beunruhigen. Es ist unangenehm, die Minderheitsmeinung zu vertreten, erst recht, wenn diese Minderheit nur eine einzige Person umfasst - mit dieser immer möglichen Beunruhigung arbeitet der Moralisierende.

Dass wir nicht umhin kommen, etwas dem Moralisieren Verwandtes zu praktizieren, darf allerdings nicht übersehen werden. Zum einen können wir durch rationales Argumentieren jemanden davon überzeugen, dass das, was wir wollen, auch er aus guten Gründen wollen kann. Diese Gründe sind nie individuell oder privat, sondern für jeden einigermaßen wachen Menschen nachvollziehbar. Wenn es uns nicht gelingt, für etwas rational zu argumentieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere persönlichen Befindlichkeiten, Interessen, Gedanken etc. als solche auszuweisen, etwa mit Satzeröffnungen wie "Ich denke, dass" oder "Ich fühle mich unwohl, weil". Jeder Mensch ist anders - die Vorstellung einer allgemeinen Moral täuscht über diese banalste aller Weisheiten hinweg, so dass diese von Zeit zu Zeit als waschechte Erkenntnis ihr Comeback feiern darf. Wenn ich als Individuum wahrgenommen werden will, muss ich als Individuum auftreten. Ich kann nicht bei der Moral Unterschlupf suchen, um mit ihrer Hilfe zu erstreiten, was ich nur allein - in der Interaktion mit anderen - realisieren kann.

Wie unangebracht uns das Verhalten eines moralisierenden Menschen auch erscheinen mag, eines sollte man ihm zugestehen, nämlich dass er die Einsicht, dass wir leidensfähige und verletzliche Wesen sind, ernst nimmt. Wer moralisiert, verwechselt sich nicht mit einem bloß autonomen Wesen, das die Bedingungen seines eigenen Lebens ausblendet. Die amoralische Attitüde ist ein Oberflächenphänomen.

1 Kommentar:

  1. Den letzen Satz finde ich besonders interessant. Darüber habe ich noch gar nicht nach gedacht.

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