Samstag, 20. Oktober 2012

Die Vorzüge der Religion

Religiös zu sein bedeutet, eine Macht anzuerkennen, die größer ist als man selbst. Das lateinische religio lässt sich mit "Zurückbindung" übersetzen. Der religiöse Mensch erkennt nicht nur an, dass es eine Macht gibt, die seine Kräfte übersteigt, sondern er nimmt auch an, dass ihm diese Macht gewogen sein und dass er sich deshalb an sie zurückbinden könne.

Der Mensch, als das Stiefkind der Natur, wird, solange es ihn gibt, seinen Traum von der irdischen Heimat weiterträumen. Auch wenn das Leben ihn schrecken und ängstigen mag, wird er doch niemals freiwillig sich davon abbringen lassen, diese Welt zu der seinigen zu erklären. Lieber noch wird er aus ihrem Schweigen die unergründliche Weisheit einer höheren Macht herauslesen, als sich einzugestehen, dass er nur zu seinem eigenen Herzen spricht. Indem er religiös wird, fühlt er den Herr der Welten (oder sonst jemand) in seinem Rücken und fühlt sich zu Hause, wohin immer es ihn auch verschlägt, denn er weiß: "Der, auf den es wirklich ankommt, ist auf meiner Seite. Mir kann nichts geschehen."

Während der Atheist verzweifelt darüber nachdenkt, wie er seine Miete bezahlen soll, geht der religiöse Mensch ruhig seinen Gang. Er fürchtet sich nicht vor dem, was kommen wird, denn er weiß: "Ich habe die Ewigkeit auf meiner Seite. Mein Glaube weist nicht nur über den springenden Augenblick, sondern über das Ende der Zeit selbst hinaus." Nichts kann den religiösen Menschen ernstlich treffen, solange er nur Freiheit genug hat, sich tröstende Gedanken zu machen. Allem kann er mit größter Gelassenheit entgegensehen.

Der religiöse Mensch denkt seine Existenz vor allem von der Macht her, an die er sich rückbindet. Damit stellen sich für ihn viele Fragen nicht, die dem metaphysisch Obdachlosen das Leben zur Hölle machen. "Ich bin eben so, wie Gott mich haben wollte. Mein Leben ist ein Geschenk Gottes, für das ich unendlich dankbar bin." Daran ist etwas Wahres, denn soweit wir wissen, liegt im Grunde nur sehr wenig in unserer Hand. Wir entscheiden nicht darüber, als was wir geboren werden, ob als Mensch oder Gras. Wir suchen uns unsere Eltern nicht selbst aus. Unsere Eigenschaften können wir veredeln und unsere Fähigkeiten bestmöglich entwickeln, aber wir können nicht frei wählen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten uns auszeichnen werden.

Muss sich ein aufgeklärter Mensch, der auf sein Selbstdenken stolz ist, angesichts dieser Vorzüge der Religion nicht fragen, ob er etwas falsch gemacht habe?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen