Donnerstag, 29. November 2012

Moralisieren

Wenn wir von jemandem sagen, dass er moralisiere, kritisieren wir ihn in der Regel. Diese Kritik ließe sich vielleicht so explizieren: Er weist eine Handlung als moralisch relevant aus, die es nicht ist. Das Feld, das wir ohne jeden bösen Gedanken betreten, betritt er aus uns unersichtlichen Gründen nicht: Er bleibt an einer Grenze stehen, die wir ohne weiteres überschreiten, ja womöglich nicht einmal wahrnehmen.

Wer moralisiert, so der Vorwurf, vermischt die Argumentationsebenen. Denn er argumentiert so, als ob es eine Moral gebe, die er unbedingt wahren müsste. Es ist jedoch keine Moral, die ihm vorschriebe, so oder so zu handeln, sondern er ist, aus welchen Gründen auch immer, nicht bereit, etwas zu tun, mit dem andere keine Probleme haben.

Der Moralisierende tut so, als habe er das Allgemeine auf seiner Seite, um nicht als besonderer Einzelner für sich sprechen zu müssen. Ihm dient die Moral als Schutzmantel. "Das tut man nicht", heißt es dann beispielsweise, nicht aber: "Ich tue das nicht". Das unpersönliche Man soll anzeigen, dass hier etwas überindividuell Relevantes ausgesprochen wird. Wer moralisiert, will zu verstehen geben, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dasteht. Wir sind nicht so rational, dass es uns gleichgültig wäre, wenn eine offenbar falsche Meinung viele Anhänger findet. Die Anzahl dieser Menschen allein schon, und sei sie nur eine imaginierte, wird ausreichen, um uns zu beunruhigen. Es ist unangenehm, die Minderheitsmeinung zu vertreten, erst recht, wenn diese Minderheit nur eine einzige Person umfasst - mit dieser immer möglichen Beunruhigung arbeitet der Moralisierende.

Dass wir nicht umhin kommen, etwas dem Moralisieren Verwandtes zu praktizieren, darf allerdings nicht übersehen werden. Zum einen können wir durch rationales Argumentieren jemanden davon überzeugen, dass das, was wir wollen, auch er aus guten Gründen wollen kann. Diese Gründe sind nie individuell oder privat, sondern für jeden einigermaßen wachen Menschen nachvollziehbar. Wenn es uns nicht gelingt, für etwas rational zu argumentieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere persönlichen Befindlichkeiten, Interessen, Gedanken etc. als solche auszuweisen, etwa mit Satzeröffnungen wie "Ich denke, dass" oder "Ich fühle mich unwohl, weil". Jeder Mensch ist anders - die Vorstellung einer allgemeinen Moral täuscht über diese banalste aller Weisheiten hinweg, so dass diese von Zeit zu Zeit als waschechte Erkenntnis ihr Comeback feiern darf. Wenn ich als Individuum wahrgenommen werden will, muss ich als Individuum auftreten. Ich kann nicht bei der Moral Unterschlupf suchen, um mit ihrer Hilfe zu erstreiten, was ich nur allein - in der Interaktion mit anderen - realisieren kann.

Wie unangebracht uns das Verhalten eines moralisierenden Menschen auch erscheinen mag, eines sollte man ihm zugestehen, nämlich dass er die Einsicht, dass wir leidensfähige und verletzliche Wesen sind, ernst nimmt. Wer moralisiert, verwechselt sich nicht mit einem bloß autonomen Wesen, das die Bedingungen seines eigenen Lebens ausblendet. Die amoralische Attitüde ist ein Oberflächenphänomen.

Montag, 26. November 2012

Einfach mal

Einfach mal Foucault vergessen und ein Subjekt im klassischen Sinne des Wortes sein, ohne bereits im nächsten Augenblick wieder auf die Bedingung der Möglichkeit des Subjektseins zu reflektieren, einfach mal eine Drecksau sein, die sich über Mills Ausspruch, dass es besser sei, ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein zu sein, grunzend ergötzt, einfach mal mit dem Selbstdenken ernstmachen und keinen Schwanz mehr über sich anerkennen, um am Ende des Tages ganz allein dazustehen, als Verbannter, Verfluchter - nur um sich einer Dankbarkeit zu erfreuen, die größer ist als alles Leid und Elend dieser Erde zusammengerechnet, eine Dankbarkeit, die so groß ist, dass man beinahe schon an einen Gott glauben muss, nur um sich ihrer irgendwie entledigen zu können, einfach mal versuchen, wie ein antiker Philosoph zu leben und die Weisheit lieben lernen, sie nicht bloß nackt auf den Tischen tanzen sehen wollen, einfach mal nicht die letzten Regungen der eigenen Seele zu zergliedern suchen, sondern sich als ein Rätsel ansehen, für dessen Lösung ein einziges Menschenleben kaum ausreicht, einfach mal die Flügel ausbreiten und sich, tollwütig vor Vertrauen und Wahn, in den Abgrund stürzen, einfach mal auf das scheißen, was die sogenannte Gesellschaft von einem erwartet, um mit Stirner auszurufen: Ich bin der wahre Mensch! Einfach mal wissenschaftlich arbeiten, sich mal wirklich hinsetzen und sich Mühe geben, nur um zu schauen, wie lange man sein Lachen zurückhalten kann, einfach mal ein dreckiges Lächeln ins Herz der Bestie tragen, um den Engeln ihren Humor zu beweisen, einfach mal mehr halten als man versprochen hat, sich nicht mehr zurückhalten, sondern ausbrechen, explodieren, den Tod nicht fürchten, sondern ihn leben, als Feuerwerk hochgehen und  die Nächte erhellen, sich einfach mal verschwenden und verausgaben in dem Bewusstsein, dass es für den Arsch ist, den Arsch der Welt, alles rauslassen, rausschreien, bis man sich ganz hingegeben hat, bis die unendliche Geheimnislosigkeit und mit dieser das Mysterium dieser Welt offen daliegt, sich einfach mal sicher sein, dass man es schaffen wird, obwohl man nicht einmal ansatzweise weiß, was das eigentlich heißen soll.

Dienstag, 20. November 2012

Delphins Nacht

"Ob ich mit Menschen oder Fischen rede, es läuft für mich auf das Gleiche hinaus. Warum begnügen wir uns damit, einander so wenig zu sein, etwas so verachtenswert Nichtiges?!" Das waren die letzten Sätze, die Delphin ihrem Therapeuten gesagt hatte, bevor er die Sitzung abbrach. Eigentlich, heißt es, hätten schizoide Menschen große Probleme damit, Fremden in die Augen zu sehen. Anders Delphin: Sie schaute Doktor Kumzik nicht nur in die Augen; weder blinzelte sie noch wandte sie je ihren Blick von dem Mann ab, den sie liebevoll als Qualle zu bezeichnen pflegte. Zu mehr als Herablassungen dieser Art war sie jedoch unfähig; ihre Liebe, sagte sie einmal, sei ein zu starkes und leidenschaftliches Gefühl, als das sie es an Meerestiere verschwenden könnte. Außerdem bezweifelte sie, dass die Liebe ihrer hypersensiblen, selbst für die kleinsten Erschütterungen überaus empfänglichen Seele keinen Schaden zufügen würde. Kumzik benötigte, angesichts solcher Aussagen, die aus einem Lehrbuch der Psychologie stammen könnten, nicht lange, um sich seiner Diagnose sicher zu sein: Narzisstisch-schizoide Persönlichkeitsstörung, nuschelte er in seinen Bart. Was er nicht wusste: Delphin, die selbst drei Semester Psychologie studiert hatte, rezitierte Sätze, die sie in diversen Werken zusammengelesen hatte. Ganze Sitzungen hindurch tat sie nichts anderes, als markante Aussagen zu memorieren, um die Qualle genau zu der Diagnose hinzuführen, die sie von ihr hören wollte. Wenn sie nicht merken würde, dachte Delphin, dass ich sie täusche, hat sie auch nicht das Recht, mich zu therapieren und mein Innerstes kennenzulernen.

Am liebsten hätte sie sich einfach in ihrer Wohnung eingeschlossen, und zwar für immer. Sie hätte gelesen, geschrieben, auf dem Bösendorfer phantasiert und, bei anbrechender Dämmerung, sogar aus dem Fenster gesehen. "Das macht mich glücklich", hatte sie ihren Eltern immer wieder weißzumachen versucht - ohne Erfolg. "Wir sind nicht dazu da, um dich durchzufüttern", hatte ihre Mutter gesagt. Da Delphin selbst der kleinste Streit physische Schmerzen verursachte, lenkte sie schnell ein.

Nie hatte sie sich unwohler als in Gegenwart Doktor Kumziks gefühlt. Er war kein Balzac, kein Nabakov, niemand, der ihr etwas Wahrhaftiges hätte sagen können, niemand, der ihr das Gefühl gegeben hätte, irgendetwas gewusst oder empfunden zu haben, was sie nicht viel deutlicher gesehen und viel tiefer empfunden hätte. Jedes seiner Worte empfand Delphin als Beleidigung, als hemmungslos-rücksichtslos ausgesprochener Angriff eines mittelmäßigen Menschen, der das Geheimnis ihres Glücks nicht zu erraten vermochte. Sie fragte sich, ob es ihr gekränkter Narzissmus sei, der ihr keine andere Wahl ließ, als so über ihn abzuurteilen. "Kann ich jemand sein wollen, der keine Wahl hat?" Sie stellte sich diese Frage, jedoch ohne ihr gewachsen zu sein. Noch.

Abends dann schaute sie aus dem Fenster und beobachtete einige Kinder, die mit einer Trinkflasche Fußball spielten. Nur verstohlen lugte sie heraus, um nicht gesehen zu werden. Sie hätte es nicht lange ertragen, die Blicke dieser lebenslustigen Wesen auf sich lasten zu fühlen. Endlich, als die Kinder verschwunden waren, schob sie den Sessel an das Fenster, um sich, eine wärmende Decke über ihren Schoß gebreitet, in die Schönheiten des Sternenhimmels zu vertiefen. Der bestirnte Himmel über mir, meinte sie zu denken. Aber sie zitierte bloß. Wie so oft. Mit gleichgültigem Gesicht sah sie in die Nacht hinaus. Wohin war der Zauber dieses größten, allumfänglichsten Schattens geflohen, der in ihr einst das Gefühl des Erhabenen entfacht hatte? Das Gefühl, eins zu sein mit dem Kosmos - in welchen Winkel ihres Gehirns hatte es sich verkrochen?

Hatte sie Doktor Kumzik nicht souverän im Griff gehabt und jede seiner Aussagen meisterhaft gekontert? Hatte sie nicht mit nahezu wissenschaftlicher Strenge bewiesen, dass er nur eine Qualle war. Hatte sie ihn nicht in so viele sokratische Dialoge hineingezogen, die immer wieder nur eines bewiesen hatten, nämlich die bodenlose Unfähigkeit dieses Therapeuten? Fühlte sie sich nicht jedesmal gestärkt und in ihren Überzeugungen gefestigt, wenn sie aus einer seiner Sitzung herauskam? Delphin hörte auf, ihre Blicke in das Nichts der Nacht zu senden und wandte sich zu ihrem Bett. Erste Tränen liefen ihr über die Wangen, die ersten seit Monaten. Von ihrem Kissen schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszugehen. Sie stürzte sich in dieses Kissen ... um zu sterben ... um zu leben ...

Montag, 19. November 2012

Der ewige Anfang

Man kann sich auch selbst betäuben, einschläfern, gerade mit Philosophie. Die wirklich radikalen Gedanken sind jene, die uns zum Handeln zwingen, also dazu, Charakter zu zeigen.

Philosophen sind nicht Menschen, die Philosophien produzieren. Diese Auffassung kann nur dort gedeihen, wo man die Philosophie mit einer wissenschaftlichen Disziplin verwechselt. Um zu überdauern, wie man sagt, muss man Werke hinterlassen; aber Werke zu hinterlassen kann niemals der letzte Grund des Denkens sein, weil der letzte Grund des Denkens immer wieder nur das Leben ist ...

Wie kann es sein, dass ein Mensch jahrelang gegen seine wahren Bedürfnisse anstreitet? Gibt es denn wahre Bedürfnisse? Siehst du, wie ich mit dieser Frage schon wieder jenen Nebel der Konfusion erzeuge, durch den ich mich als sogenannter denkender Mensch davonmachen kann? Auf diese Weise wird die schmerzliche Ahnung, falsch zu leben, einfach niedergezweifelt und marginalisiert, bis nichts mehr von ihr bleibt als ein Grund, höhnisch zu lachen - Ist das etwa Philosophie?

Frage dich nicht, was du gedacht, sondern was du getan hast. "Aber was soll das heißen?", höre ich dich schon wieder fragen. Du fragst nicht, weil dir etwas unklar geblieben wäre, sondern weil dich die Klarheit und Grelle des Gedachten verwirrt hat.

Wer den starken Mann spielt, muss sich nicht wundern, wenn er wie ein starker Mann behandelt wird, nämlich wie jemand, der eigentlich nicht stark ist.

Du machst einem Menschen Hoffnung, so als ob du ihm viel Glück für eine lange Reise wünschtest. Aber bist du Mensch genug, um selbst Ziel einer solchen Reise zu sein?

Nur das Schlechte kann zur Gewohnheit werden, weil das Gute Mut, Konzentration und Ehrlichkeit, mit einem Wort: Bewusstsein verlangt.
  

Freitag, 16. November 2012

Die Krise des Bösen

Ich bin ein Mensch, der Gründe braucht, um leben zu können. Dieses Leben ist nicht durch sich selbst gerechtfertigt, ich muss ihm irgendeinen Metatext unterlegen, der es mit dem Blut der Bedeutung versorgt. Zu dem selbstgefälligen "Ich stehe hier, ich kann nicht anders", das aus den Augen einer zufriedenen Kuh spricht, die auf einer Wiese rumlümmelt, bin ich nicht fähig. Leider sind mir in den letzten Monaten die Gründe ausgegangen, so dass ich ziemlich auf dem Zahnfleisch krieche.

"Geben Sie mir eine Tüte mit neuen Gründen!", fordere ich den Dämon mit dem Stierkopf und dem viel zu engen Anzug auf. Er sitzt der Agentur zur Durchsetzung des bösen Prinzips auf der Erde vor und wird vom Satan selbst finanziert (in der Hölle arbeitet niemand ehrenamtlich). "Wie? Aber Sie haben doch erst vor einem halben Jahr neue Gründe zugeteilt bekommen!"

"Was kann ich denn dafür, wenn die Gelehrten der Unterwelt zu dumm sind, um etwas zu ersinnen, das einen Geist wie den meinen über einen längeren Zeitraum hinweg zu stimulieren vermöchte. Dabei haben doch gerade sie als böse Geister die Möglichkeit, wirklich alles zu denken, ich meine, welche Grenze gäbe es, die sie zu achten hätten? Welche Hemmung, die sie zurückhielte?"

"Unsere Gelehrten arbeiten Teilzeit. Viele wissen nicht einmal, wie sie ihre Familien anständig verderben sollen, so wenig verdienen sie. Seit der Glaube an die diabolischen Mächte weltweit zurückgegangen und mancherorts sogar vollkommen eingeschlafen ist, haben wir hier unten mit großen Liquiditätsproblemen zu kämpfen.  Die Kassen sind einfach leer."

"Dann können sie Ihren Laden ja zusperren. Das Böse scheint auch nicht mehr das zu sein, was es einmal war!"

"Halten Sie sich bitte zurück, junger Mann! Auch ich arbeite nur auf Stütze. Denken Sie etwa, ich trüge diesen fürchterlichen Anzug, wenn ich mir einen besseren leisten könnte?"

Das Telefon klingelt. Nach einer ebenso kurzen wie heftigen Unterredung mit seinem Boss erhebt sich der Dämon von seinem Stuhl, um nach einer Tüte mit guten Gründen zu suchen. Jetzt scheint auch ihm bewusst geworden zu sein, wer ich eigentlich bin. Ich bin die letzte Hoffnung des bösen Prinzips auf der Erde. Oder richtiger gesagt: Ich war die letzte Hoffnung dieses Prinzips. Der Dämon versucht noch hastig, mir die Tüte in die Hand zu drücken. Doch es ist zu spät. Ein so lascher Klub ist nichts für mich.

Ich werde mir meine Gründe anderswo suchen. Aber brauche ich überhaupt Gründe um zu leben? Vielleicht sollte ich bei den Kühen in die Schule gehen.

Mittwoch, 14. November 2012

Nietzsches Schweigen

 [...] noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie: es scheint mir so töricht, recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Wertvollstes nicht mitteilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. (Nietzsche in einem Brief an Peter Gast vom 20. August 1880)

Warum denkt man Gedanken, von denen man, schon während man sie denkt, genau weiß, dass man sie niemals jemandem wird anvertrauen können? Wozu könnten sie dienen? Zur Selbstvergewisserung? Aber was hätte man davon, sich eines Selbsts im Geheimen zu vergewissern? Marx hätte sicherlich keine Probleme damit gehabt, sich mitzuteilen, weil er von etwas überzeugt war, für das er ohne Wenn und Aber kämpfen konnte: für die Selbstbefreiung des Menschen. Für ein solches Ziel braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Der emanzipatorische Grundimpuls dieses Denkens, dem das Insistieren auf Verwirklichung immanent ist, hat die Menschen vieler Generationen inspiriert und zu Taten animiert.

Anders verhält es sich mit Nietzsche, der mit Aristoteles davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die bloß zum Dienen geboren sind. Ihr einziger Zweck bestehe darin, die Entstehung eines höheren Typus, heiße er Genie, freier Geist oder Übermensch, durch ihren Sklavendienst zu ermöglichen. Wie sollte jemand, der in seinem Denken so strikt und unversöhnlich zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen menschlichen Seins unterscheidet, keine Probleme bekommen, wenn er sich mit Fremden unterhält? Das Traumbild, das ihm vorschwebte, fand er nirgends verwirklicht; nicht einmal Wagner, an dem er den symbolischen Vatermord meinte begehen zu müssen, ließ er gelten. Folglich hätte er jedem ins Gesicht sagen können: Sie sind nicht der, den ich suche. Das wäre die unfassbar unbefriedigende Konsequenz aus diesem Denken gewesen.

Montag, 12. November 2012

Das geflügelte Tier

Ich lebe jeden Tag, als ob es mein letzter wäre, nämlich mit einem ziemlich beschissenen Gefühl in der Magengegend. Nein, Ernst beiseite ... Phantasieren, Fabulieren, Unsinn erzählen, Rumalbern, Rumphilosophieren, unvermittelt böse Bemerkungen einstreuen, nackte Frauen mit spitzen Bleistiften zeichnen, wilde perverse Geschichtchen schreiben ... Sind dies lediglich verschiedene Weisen, der Realität auszuweichen? Kindereien eines unreifen, eines unfertigen Charakters? Ich denke nicht. Wenn ich mich solchen scheinbaren Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten hingebe, fühle ich mich gut, beinahe glücklich ... Wer in der Phantasie lebt, wird als Phantast, als Realitätsflüchtling gescholten; ich denke jedoch, dass wir, wann immer wir Glück empfinden, dies immer auch deshalb tun, weil wir nicht mit aller Schärfe unseres Verstandes zwischen dem unterscheiden, was ist, und dem, was wir uns nur vorstellen. Nichts könnte grausamer sein, als auf ewig in dem engen Kreis des Wirklichen gefangen zu sein. Der Mensch ist ein geflügeltes Tier.

Was würden die Menschen in der besten aller möglichen Welten tun? Ich denke, dass sie nichts anderes tun würden, als was sie schon jetzt tun. Lesen, lernen, schreiben, fotografieren, musizieren, philosophieren - doch mit einem Unterschied: Sie würden sich diesen Tätigkeiten ohne schlechtes Gewissen hingeben können, weil sie wüssten, dass auch alle anderen die Möglichkeit hätten, sich selbst durch sie zu entdecken. Die Arbeit würde endlich aufgehört haben, wie ein Fluch über dem Leben zu liegen. Der Neid des Arbeitenden auf den geistigen Nichtsnutz wäre wie weggeflogen, wie auch das Überflüssigkeitsgefühl verschwunden wäre, das den Nichtsnutz plagt. Man würde aufhören, auf den Elfenbeinturm zu schimpfen, sondern ihn mit Girlanden, Lametta und duftenden Blumen verzieren, denn es gäbe wirklich nichts Wichtigeres auf der Welt mehr, als über diese Welt nachzudenken.

Freitag, 9. November 2012

Die Wahrheit sagen

Nur du weißt es. Niemand schöpft Verdacht. Wenn du nicht darüber redest, wird es niemals zum Thema werden. Es wird einzig darauf ankommen, ob es dir gelingt, nicht darüber zu reden. Noch einmal: Niemanden interessiert e. Aber du weißt es. Kannst du dich in anderer Leute Ahnungslosigkeit hineinfinden, obwohl du bis in dein Innerstes hinein von einer Wahrheit zerfressen bist, die du mit niemandem teilen kannst?

Der schlechte Mensch ist ein Mensch, der Geheimnisse hat. Er wagt es nicht, die Wahrheit über sich auszusprechen, weil er glaubt, in den Augen anderer dadurch zu verlieren. Mit anderen Worten: Er rechnet fest damit, nicht verstanden zu werden. Die Schlechtigkeit nimmt dort ihren Anfang, wo sich jemand missverstanden fühlt und sich mit diesem Missverstandenwerden arrangiert. Damit ist der Bruch zwischen ihm und den anderen perfekt. Geheimnisse beginnen im Dunkel der Angst zu sprießen.

"Nichts Menschliches ist mir fremd." Es lebt vermutlich niemand, der diesen Satz aussprechen könnte, ohne zu lügen. Vielmehr drückt er eine Utopie aus, die Utopie eines universellen Verstehens alles Menschlichen. Im Geist eines Menschen, der zu einem derartig umfassenden Verstehen fähig wäre, würden sich die Geheimnisse einfach auflösen, weil er sie zu gut verstände, um noch an sie glauben zu können. Der schlechte Mensch missversteht sich selbst. Eben dieses Missverstehen ist das Geheimnis. Wenn sich ein Mensch ganz dem Verstehensprozess öffnet, hört er auf, schlecht zu sein.

Nimm ein Blatt Papier und schreibe jene Dinge über dich auf, die du nicht einmal deinem besten Freund erzählen würdest. Es dürfte dir ziemlich schwer fallen, dich nicht zurückzuhalten, das in Worte zu fassen, was du dir sonst nicht einmal vorzustellen wagst. Die menschliche Utopie wäre zu ihrem Sieg, sprich: zu ihrer Verwirklichung gelangt, wenn jemand dieses Blatt fände und läse, ohne eine Hetzjagd gegen dich zu eröffnen. Das eben ist Gnade: Alles sagen zu können, ohne etwas befürchten zu müssen. Es ist kein Zufall, dass der christliche Gott der Liebe zugleich als allwissender Gott gedacht worden ist.

Mittwoch, 7. November 2012

Normalität

Normalität ist das Ideal der Mittelmäßigen (Jung). Ich halte es für sehr wichtig, diesen Satz immer wieder zu wiederholen, um auch den Schmerz immer wieder neu entstehen zu lassen, den er in den Herzen so vieler Menschen verursacht. Denn dies ist der Schmerz, aus dem Erkenntnis geboren wird. Diese Operation kann nur ohne Narkose gelingen.

Wer von sich sagt, dass er nur ein normaler Mensch sei, sagt: Von mir geht keinerlei Gefahr für eure zahmen Haustierseelen aus, weil ich selbst eine zahme Haustierseele bin. Seine oft schon zur mechanischen Denkgewohnheit erstarrte Orientierung am Normalen, Gewöhnlichen und ohne jede Phantasie Vorhersehbaren verunmöglicht es dem Menschen, zu seinen wahren Kräften vorzustoßen. So bleibt er zeitlebens eine halbherzig hingekritzelte Andeutung dessen, was er hätte werden können. Er begnügt sich damit, das Beispiel eines normalen Menschen abzugeben, weil ihn die Vorstellung, dass er ein anderes Menschsein leben könnte, ängstigt.

Unter hundert Menschen wird man nicht einen finden, der gänzlich normal wäre. Stattdessen wird man die Bekanntschaft mit hundert vollkommen unterschiedlichen Individualitäten gemacht haben. Vielleicht könnte man "normal" mit "unspezifiziert" gleichsetzen. Die Idee der Normalität muss sich jedoch in einer konkreten Individualität verkörpern, damit die Rede von einem normalen Menschen überhaupt Sinn machen kann. Menschen existieren jedoch ausschließlich als spezifizierte Wesen - und können schon deshalb niemals nur normal sein. "Finde dich endlich damit ab, dass du etwas Besonderes bist", sollte man jedem zurufen, der für sich ein Höchstmaß an Eigenschaftslosigkeit anstrebt.

Sonntag, 4. November 2012

Der Regen wird stärker

Hörst du, wie der Regen gegen die Scheiben prasselt? Verstehst du, was er sagen will?

Wieso sind wir als Menschen auf diese Welt gekommen? Warum nicht als Viren, Gras oder Stechmücken? Wäre uns nicht ein süßeres und im Grunde auch glücklicheres Dasein beschieden gewesen? Was hat sich die Natur dabei gedacht, als sie uns ausgerechnet Menschen hat werden lassen? Hättest du die Katze, die du vielleicht gerade in diesem Augenblick streichelst, nicht selber sein können? Ist Menschsein ein Zufall? Eine Strafe? Oder sind wir hier, um unsere Bestimmung herauszufinden, selbst wenn sich im Verlaufe unserer Forschungen herausstellen sollte, dass es überhaupt keine menschliche Bestimmung gibt?

Der Regen wird stärker.

Aber warum sollte mich mein Menschsein überhaupt etwas angehen? Ich wollte nicht als Mensch geboren werden. Du siehst: Der Lebenswille in mir, der sich auf so vielfältige Weise hätte manifestieren können, hat sich nie ganz damit abgefunden, als wenig behaartes, auf zwei Beinen laufendes Gorilla-Bonobo-Mischwesen existieren zu müssen. Ich bin eifersüchtig auf die Tiere. Sie müssen irgendetwas richtig gemacht haben, was ich falsch gemacht habe.

Hast du schon einmal so gedacht? Hast du dich schon einmal gefragt, ob es da draußen jemanden geben könnte, der auch so denkt? Der so gebrochen empfindet?