Sonntag, 5. Mai 2013

Nichts mitbekommen (Dialog)

Sophia: Nichts ist wahrhaft wert, sich darüber aufzuregen. Nichts.

Emil: Ich finde, das ist eine Haltung, die an Zynismus nicht mehr zu überbieten ist. Schau dir die Welt doch einmal an! Wer sich über dieses sinnlose Leid nicht aufregen kann, in dem schlägt nicht das Herz eines Menschen!

Sophia: Dass ich mich nicht aufrege, heißt nicht, dass mir die Welt egal wäre. Im Gegenteil. Du vermischst da zwei ganz verschiedene Dinge.

Emil: Wenn du immer ruhig bleibst, kannst du nicht die Wut entwickeln, die notwendig ist, um etwas zu verändern. Dir fehlt dann einfach die Power.

Sophia: Diese Wut ist nicht notwendig. Nicht die Wut ist das Entscheidende, sondern die Einsicht. Wenn ich ein Problem verstehe, kann ich es lösen. Dazu brauche ich nicht wütend zu sein.

Emil: Mir sind Menschen unheimlich, die sich durch nichts aus der Fassung bringen lassen.

Sophia: Denkst du, dass ich all diese Dinge spurlos an mir vorübergehen lasse? Ich setzte mich sehr intensiv mit ihnen auseinander, rede mit anderen darüber. Wichtig ist mir dabei eine Gesprächssituation, die von Mitgefühl und Offenheit geprägt ist. Wenn sich jemand gehen lässt und rumzustänkern anfängt, dann weisen wir ihn sofort zurecht. Bei sensiblen Themen ist es besonders wichtig, dass keiner austickt.

Emil: Also wer eine eigenen Kopf hat und klar zu seiner Meinung steht, wird ausgegrenzt? Zurechtgewiesen? Wo lebt ihr denn, dass ihr so etwas nötig habt?

Sophia: Diese Zurechtweisungen sind gerade dazu da, damit alle Meinungen auf eine würdige Weise zur Sprache kommen können. Je sensibler das Thema, desto sorgsamer müssen wir miteinander umgehen. Und wirklich versuchen, den anderen zu verstehen. Das ist das Wichtigste. Wenn jemand anfängt rumzubrüllen und wir das zulassen, ist das Gespräch verloren. Es wird ein gewisses niedriges Niveau nie überschreiten. Und welche Menschen profitieren davon? Die dummen, die lauten, die oberflächlichen.

Emil: Ich denke, es ist okay, hin und wieder auch auf die Pauke zu hauen. Gerade die Spannungen geben dem Leben doch seine Würze.

Sophia: Du verstehst mich nicht. Wir haben auch Spannungen, aber wir gehen eben anders mit ihnen um.

Emil: Du hast nie gelernt, dich zu wehren, dich durchzusetzen. Weil du keine Autorität hast, versuchst du alles in Wohlgefallen aufzulösen.

Sophia: Lange dachte ich, es sei wichtig, die Ellenbogen richtig einzusetzen. Heute weiß ich, dass ich das gar nicht muss. Wenn ich sage, was ich denke, spürt das jeder. Dann "verwandle" ich mich ganz unausweichlich in so etwas wie eine Autorität.

Emil: Davon habe ich bisher nichts mitbekommen.

Die Liebe in "Titanic"

Ich sehe mir das Video von "My heart will go on" auf You-Tube an, den Song des Kassenschlagers Titanic. Celine Dion lächelt nicht, sie wagt es nicht. Denn es geht um die große Liebe. Ein User schreibt im Kommentarbereich: "[...] for some reason it gets made fun of a lot. I'm guessing by envious people that have never felt love." Frei übersetzt: Nur jemand, der niemals Liebe gefühlt hat, kann sich über diesen Film lustig machen. Warum wird dieser Film mit der Liebe schlechtin assoziiert? Warum geht von "Titanic" eine so große Wirkung aus?

Zunächst einmal sehe ich das Motiv des Opfers. Der Hauptdarsteller Jack stirbt freiwillig, um seine Freundin Rose zu retten. Nichts in der Welt ist ihm wichtiger als Rose, und deshalb hat er auch die Kraft, seinen natürlichen Egoismus zu überwinden und an ihrer Stelle zu sterben. Man kann immer sagen, dass einem jemand wichtiger ist als alles andere. Aber wenn man wirklich bereit ist, für diesen Menschen zu sterben, ist das eine andere Qualität. Dies ist der ultimative Beweis der Liebe, denn Jack kann ja nichts mehr zurückhalten, kein beliebiges Doppelleben irgendwo anders mit einer anderen führen, wenn er im eiskalten Atlantikwasser ertrinkt. Er gibt sich ganz für Rose hin.

Wäre das Schiff nicht untergegangen, hätte Jack keine Möglichkeit gehabt, diesen ultimativen Beweis zu erbringen. Das normale Leben ist weitaus prosaischer. Es bietet wenig Möglichkeiten, als selbstloser Held zu glänzen. Vielleicht kamen viele Besucherinnen seufzend aus diesem Film und fragten sich, warum es solche Männer in der Wirklichkeit nicht gäbe. Man könnte darauf trocken antworten: Weil sie nicht gebraucht werden. Das ist aber nicht alles. Das Faszinierende an Jack ist, dass er sich als Mann für Rose opfert. Die Frau, gesellschaftlich in jeder Hinsicht benachteiligt, wird durch die aufopfernde Liebe des Mannes zu einem heiligen Wesen erhöht. Gerade weil der Film nicht realistisch ist, vermag er so große Gefühle zu wecken. Einerseits gilt Jacks Verhalten als tugendhaft, andererseits wäre es für eine Frau eine unglaubliche Zumutung zu wissen, dass jemand nur für sie gestorben ist. "My heart will go on" - das ist leichter gesungen als getan. Durch sein Opfer hebt Jack die Gleichheit zwischen ihm und Rose für alle Zeiten auf. Sie wird für immer in seiner Schuld stehen und er sie auf ewig belasten mit dem tödlichen Beweis seiner Liebe. Vielleicht hätte Cameron beide sterben lassen solllen.

Auch die Intensität der Liebe spielt eine große Rolle. Jack und Rose lernen sich erst auf dem Schiff kennen. Sie haben keine lange Beziehung hinter sich und keine Krisen überstanden. Sie sind jung, attraktiv und ineinander verknallt. Jack opfert sich für eine Frau, die er gar nicht wirklich kennen kann. Er hat nicht gelernt, sie zu lieben; er ist "bloß" in sie verliebt. Man mag sich Jack und Rose kaum als altes Ehepaar vorstellen, das ein mäßig glückliches, routiniert-gewöhntes Leben führt. Ihre Liebe hatte nie die Chance, alt zu werden. Durch seinen frühen Tod lebt Jacks Liebe in Rose' Herz als reine, unwandelbare, ewige Liebe fort. Dort ist sie eingeschlossen wie die Fliege im Bernstein - und ebenso lebendig.

Wenn ich mir was wünschen dürfte


Sonntag, 28. April 2013

Abhängigkeit

Wer seine Befreiung zu laut feiert, macht sich leicht verdächtig, seine Abhängigkeit lediglich bei einem anderen Namen zu nennen. Wer sein Leben lang als strammer Atheist gegen Gott kämpft, hängt fester an ihm als so mancher Christ: Er braucht ihn, um sich von ihm abzugrenzen. Was aber, wenn er seinem Unglauben endlich einmal ganz nachgeben würde? Dann bliebe ihm in der Tat nichts mehr übrig, voran er sich durch Abstoßung würde halten können.

Dienstag, 23. April 2013

Auf ein Neues

Und so wird die Uhr des Leidens von Neuem aufgezogen. Wie immer geht es auch diesmal zunächst überaus freundlich zu. Von Morgenröten-Meeren durchflutet umfasst der azurne Himmel schützend das junge, sich seiner Keime entwindende Glück - oder so. Ich sitze in der ersten Reihe, um dem Schauspiel beizuwohnen, das die Natur zu geben nicht müde wird. Jedem, der es kennt, ist das Ende längst bekannt. Die Natur ist nicht sehr einfallsreich. Worauf sie hinauswill, ist nicht schwer zu erraten. Aber es hilft nichts, dies zu wissen. Gar nichts.

Vielleicht ist es gerade die Unfähigkeit des Menschen, die Hoffnung trotz allem nicht aufzugeben, die ihn menschlich macht. Und nicht nur die Hoffnung ...

Montag, 22. April 2013

Der Weg

Du wirst an einem vollkommenen Glück Anteil haben, ein Glück, das durch äußere Einflüsse weder gemindert noch vergrößert werden kann. Denn du allein wirst für dieses Glück verantwortlich sein; du entscheidest, ob du glücklich oder unglücklich sein willst. Jeder Mensch hat diese Entscheidung. Sei dir bewusst, dass dir viele Dinge, die du jetzt zu den wichtigsten deines Lebens rechnest, deine Seele nicht mehr bewegen werden, sobald du anfängst, diesen Weg zu beschreiten. Du wirst nicht mehr nach der Wahrheit in den Büchern suchen. Du wirst keine Romane mehr mit Genuss lesen können. Du wirst nicht mehr sagen: Was für eine packende Geschichte! Sondern: Diese Menschen handeln unweise, sie haben sich nicht im Griff; darum müssen sie spannende Abenteuer erleben. Du wirst auch keine Filme mehr sehen, weil dich mit keiner anderen als der wirklichen Welt mehr beschäftigen willst. Die künstlichen Welten werden aufhören, dich innerlich zu bewegen. Wie einem Traumspiel wirst du ihnen zusehen, ungerührt und unbeeindruckt. Du wirst gelernt haben, dass es nur ein Leben gibt, nämlich das wirkliche Leben im Hier und Jetzt. Dein Geist wird sich stets gleich bleiben und sich an die frische Erfahrung halten. Du wirst keine großen Gefühle mehr in deiner Brust zucken fühlen; du wirst frei sein von Leidenschaften, von dem Begehren, der Sehnsucht sein. Du wirst aufhören, diese Regungen mit neuen Illusionen zu füttern. Dein Herz wird aufhören, sich wie ein Feuer durch alle Dingen hindurchbrennen zu müssen. Es wird verlernt haben, an die Befriedigung seiner höchsten Sehnsüchte zu glauben. Deine unerfüllten Sehnsüchte werden dir nicht mehr wiederkehren, weder als Verdrängtes noch verkleidet in neuen, raffinierter gesetzten Worten  – sie werden aufhören. Wenn du an deinem Ich und der Vorstellung hängst, du seist dieser oder jener Mensch, kannst du diesen Weg nicht gehen. Denn wer oder was du bist oder nicht bist, kannst du erst erfahren, wenn ...

Donnerstag, 11. April 2013

Liebe und Schmerz

Zwischen Liebe und Schmerz besteht kein wesentlicher Zusammenhang. Der Schmerz beruht auf Unwissenheit, Ignoranz und Idealisierung. Man sieht einen Menschen so, wie man ihn sehen will, nicht so, wie er ist. Zeigt sich dann, dass man sich in ihm geirrt hat, steht man entblößt vor der Erkenntnis, dass man einer Illusion nachgejagt war. Diese Erkenntnis ist es, die den Schmerz erzeugt. Die Liebe hingeben kann überhaupt keine Schmerzen verursachen, vielmehr lindert und heilt sie sie. Sie ist ein Tun, kein Erleiden.

Wer also sagt, dass Liebe und Schmerz untrennbar zusammengehören, könnte ebenso gut sagen, dass echte Liebe ohne Unwissenheit, Ignoranz und Idealisierung nicht zu haben sei. Denn nur diese ermöglichen es, sich derart in einem Menschen zu täuschen, dass man sich am liebsten unsichtbar machen möchte, sobald man diese Täuschung durchschaut. Die Rationalisierung liegt nahe: "Ich leide, also bin ich immerhin liebesfähig, denn wenn ich nicht liebte, würde ich ja nicht so leiden können. Ich stelle mich der Wahrheit meines blutenden Herzens!"

Sonntag, 7. April 2013

Bemerkungen zu "Die narzisstische Gesellschaft" (Maaz)

Wenn man eine Zeit lang die Luft des Buddhismus zu atmen gelernt hat, und sich dann wieder den altvertrauten westlichen Diskursen zuwendet, kann einem leicht flau im Magen werden. So geht es zumindest mir. Mir ist, als ob ich von einer luftig-lichten Höhe in eine dunkle, verschwitzte, stinkende und viel zu enge Gruft hinabsteigen müsste, aus der alle paar Minuten Schmerzensrufe erschallen. Im Dunkel kichert die unvermeintliche Peitsche. Unverdautes Christentum, Rückschritt, Regression ... Ein gutes Beispiel ist das Buch von Maaz "Die narzisstische Gesellschaft".

Maaz schreibt, dass ein Kind, das in den ersten drei Jahren zu wenig Liebe und Zuwendung erfahren habe, sich im späteren Leben zu einem narzisstischen Menschen entwickelt, der diesen Urmangel durch Kompensationsbemühungen zu überdecken sucht. Wirklich glücklich könne solch ein Mensch aber niemals mehr werden, so Maaz. Diese zu Unglück verdammten Wesen seien es auch, die für die allermeisten Übelstände in der Welt verantwortlich sind: gierige Banker, korrupte Politiker, Kriege etc. Einerseits seien sie nicht schuld daran, niemals echtes Glück erleben zu können, andererseits sollen sie lernen, den unstillbaren Durst ihres Herzens zu zügeln, um dieser Erde nicht auch noch den letzten Stoß zu verpassen. Für die narzisstischen Menschen hält Maaz also nur den schmerzhaften Becher der Selbsterkenntnis bereit. Den Schaden zu begrenzen sei das einzige Ziel.

Ich sage nicht, dass diese Überlegungen falsch sind. Sie sind fundiert. Aber die Bedeutung, die Maaz ihnen beimisst, hat etwas Verhängnisvolles. Wenn ich glaube, dass ich niemals wirklich glücklich sein kann, weil mich meine Mutter zu wenig geliebt hat, werde ich auch unglücklich sein. Ich kann immer jemanden dafür verantwortlich machen, warum es mir nicht gelingt, Verantwortung zu übernehmen. Woran könnte auch eine Mutter nicht schuld sein? Ein Buddhist würde Maaz' Fixierung auf die frühkindliche Phase vielleicht als Anhaftung deuten: Maaz identifiziert sich mit dem ungeliebten Kind und kann sich deshalb nicht von der Vorstellung befreien, ein solches ungeliebtes Kind zu sein. Daraus entsteht sein Leiden und damit wohl auch sein Bedürfnis, dieses Leiden nicht nur in so vielen Büchern zu behandeln, sondern sogar die Schieflage der Gesellschaft aus diesem einen schmerzenden Punkt zu erklären. Das ist kein Psychologismus; Maaz spricht in Interviews selbst über seine "Muttervergiftung". Er lässt sich also nicht zu den Gesunden rechnen, deren Glück ihm gemäß der eigenen Logik zwar verschlossen bleiben muss, das er aber doch irgendwie zu erahnen scheint. Das nennt man wohl - Samsara?

Freitag, 5. April 2013

Um den heißen Brei

Was nützt das geistreich-albern Reden und planetenbahnweite Herumschweifen um den heißen Brei, wenn man einem Menschen nicht sagen kann: Schön, dass es dich gibt!

Mittwoch, 3. April 2013

Abgrenzung

Manche Menschen scheinen nur zu dem Zweck auf dieser Welt zu sein, damit man sich freuen darf, nicht so wie sie geworden zu sein. Ja die Frage darf erlaubt sein, ob das Glück überhaupt möglich ist, sofern man nicht auch jemanden gefunden hat, von dem  man sich kraftvoll abstoßen kann?

Das Glück ist ein sehr zerbrechliches Gut. Nur unter bestimmten Bedingungen gedeiht es. Wer es also mit dem Glück ernstnimmt, wird auch eine klare Vorstellung davon entwickeln, was seinem Glück abträglich ist. Etwas zu wollen bedeutet auch, zu wissen, was man nicht will. Wer nicht nein sagen kann, kann auch nicht glücklich werden, weil er den Einflüssen, die seinem Glück schaden müssen, nichts entgegenzusetzen hat. Ein gleichgültiger Mensch kann nicht glücklich sein; über ein gewisses Maß an Zufriedenheit wird er niemals hinauskommen. Ob Kinder entführt und getötet werden, interessiert ihn wenig. Denn auch der Täter sei schließlich nur ein armer Teufel, der, wie jeder andere Mensch auch, nun einmal seiner Natur gemäß handeln müsse. Und wenn es in seiner Natur liegt, Kinder umzubringen, dann sei das eben zu akzeptieren. Ein solcher Mensch bemerkt nur die Aufregung der Eltern, die er nicht versteht und darum als hysterisch empfindet. Er ist nicht entschlossen, denn er hat sich zu nichts entschieden, obwohl er eine Meinung zu vertreten vorgibt. Für ihn handelt es sich allenfalls um ein intellektuelles Problem, das er als "guter Demokrat" aus allen möglichen oder unmöglichen Blickwinkeln zu betrachten gedenkt, um zu einem "vernünftigen Urteil" zu gelangen.

Wenn die Menschen Engel wären, wäre es nicht erforderlich, diese negierende Entschlossenheit zu entwickeln. Aber Hand auf's Herz: Wer käme ganz ohne sie aus? Selbst Jesus grenzte sich entschlossen von den Reichen, Krämern und Schriftgelehrten ab. Das heißt nicht, dass es nun einmal so sein müsste. Es läuft auf Selbstverdummung hinaus, den Anderen als Anderen ein für allemal zu fixieren, um sich von ihm abzugrenzen. Die Gefahr, anstatt den anderen Menschen, nur die Wahnbilder zu erblicken, die man sich von ihm gemacht hat, ist riesengroß. Die größte aller Gefahren ist das freie Wuchernlassen der eigenen Dummheit; die der anderen ist für unser Glück meist weit weniger schädlich als wir meinen. Die Grenzen, die man um sich zieht, halten nicht nur die anderen von einem fern. Man sperrt sich ebenso von ihnen aus und damit in seine eigene "Wahrheit" ein.

Montag, 1. April 2013

Zwangskontemplation

Im Grunde ist es Wahnsinn, über etwas nachzudenken, dass man nicht beeinflussen kann. Denn damit ist schon a priori klar, dass das, was man denken wird, wirkungslos verpuffen wird. Es ist so, als wollte man in einer Gefängniszelle einen Marathon laufen. Das klingt idiotisch. Aber genau das tut die erdrückende Majorität der Menschen (zu der ich mich in vielerlei Hinsicht rechnen muss). Sich mit etwas zu beschäftigen, das man allenfalls kommentieren, nicht aber verändern kann, erzeugt unweigerlich das Gefühl von Ohnmacht. Die Medien produzieren diese Ohnmacht, indem sie über Ereignisse berichten, die entweder Angst, Wut oder Mitleid beim Konsumenten erzeugen, ohne ihm eine Möglichkeit aufzuzeigen, auf diese Ereignisse auf eine menschliche Weise zu antworten. Er fühlt sich ohnmächtig, weil er seine Gefühle nicht teilen kann, weil er, könnte man sagen, auf ihnen sitzenbleibt. Endlich kommt er zu dem Schluss, dass es auf der Welt tatsächlich grausam und rücksichtslos zugeht. Mit anderen Worten, er erkennt das, was die Medien ihm zeigen, als Realität an. Auf den Gedanken, dass sein undisziplinierter Medienkonsum erst zu dieser "Realität" geführt haben könnte, kommt er nicht. Vielleicht wird er sogar mit einem bösen Blick auf jene schauen, die sich all die schlechten Nachrichten nicht so zu Herzen nehmen wie er. Vielleicht wird er sie als politisch ungebildet und ignorant abqualifizieren. Denn zur Realität gehöre nun mal, dass man sich der harten Wahrheit stelle, dass man als informierter, aufgeklärter Mensch nur ein Pessimist sein könne, also jemand, dem die Ohnmacht längst zur zweiten Natur geworden ist.

Ausklinken

Wenn ich fühle, dass es jemand mit mir nicht gut meint, klinke ich mich gleich aus. Was sollte so ein Gespräch auch bringen? Schon die Absicht, jemanden im Reich der Theorie überzeugen zu wollen, ist mir suspekt. Ich will verstehen. Meine Neugier ist unbegrenzt. Sie braucht Auslauf und frische Luft. Aversion und Ignoranz lähmen sie.

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Leute übereinander herfallen. Wenn ich mir zum Beispiel die User-Kommentare auf Spiegel-Online durchlese, verstehe ich die Welt nicht mehr. Was bringt es, andere, die man weder kennt noch jemals im Leben sehen wird, runterzumachen? Was sind das für Leute hinter den Bildschirmen? Was für Geister wohnen unter ihren Schädeldächern? Wohnen da überhaupt irgendwelche Geister? Oder sind es nur Computer, darauf programmiert, eine virtuelle Öffentlichkeit zu simulieren, um das Nachrichtenportal für Werbepartner attraktiver zu machen? Stimmt mit mir etwas nicht, weil ich keinen einzigen dieser Kommentare ernstnehmen kann? Ich spüre zu deutlich, dass sich da jemand erleichtert, es ist wie Urinieren in der Öffentlichkeit. Was soll man da kommentieren? Es ist einfach nur peinlich. Mir täte es weh, über all die offensichtliche Verletztheit, die Ignoranz und die Dummheit hinwegzulesen, so als ob alles gut und hübsch wäre. So als ging es tatsächlich um Inhalte. 

Samstag, 30. März 2013

Meinungsfreiheit

Die Meinungsfreiheit wird gerne als Argument bemüht, wenn es darum geht, auf irgendeine Randgruppe oder ganze Völker einzudreschen. "Das wird man ja noch sagen dürfen." Der Freiheitsbegriff, der solchen Aussagen zugrundeliegt, ist sehr plump. Demnach ist frei, wer ohne alle Rücksichten sagen kann, was er will.

Und so schreibt man im Namen der Meinungsfreiheit munter drauf los, verbreitet zum Beispiel seine dummen Vorurteile über die dummen Türken oder die faulen Griechen. Man wird ja wohl noch kräftig spalten und die Saat des Hasses zwischen den Menschen pflanzen dürfen! Man wird ja wohl noch Staaten gegeneinander aufhetzen dürfen! Man wird sich ja wohl noch aus dem reichen Bestand an Stereotypen bedienen dürfen, die die Kulturgeschichte für uns bereithält, um zu beweisen, dass die Kamelficker schon immer minderwertig waren! Man wird ja wohl noch zeichnen dürfen, wie sich der Prophet einen runterholt, denn damit setzt man die ehrbare Tradition aufklärerischer Streitkultur fort! Man wird ja wohl noch rassistische, nationalistische und sexistische Scheiße unter das Volk bringen dürfen, weil die Leute eben nichts anderes als diese Dummscheiße verdauen können! Die sind eben so! Die brauchen das! Man wird ja wohl noch den Selbsthass, den man dumpf empfindet, an Fremden auslassen dürfen! Sich auf Kosten anderer erleichtern, das ist Aufklärung, das ist Freiheit, das ist überhaupt das Glück! Und so schmiere ein jeder seinen gammelnden Meinungsrotz in alle Ecken, damit auch jeder erfahren kann, wie geistlos unser Zeitgeist vielleicht noch einmal werden kann! Je dümmer, desto ehrlicher! Desto freier!

Mittwoch, 27. März 2013

Schneekristalle

Gedanken sind wie Schneekristalle. Ihre raffiniert-kleinteilige Schönheit mag uns inspirieren und unsere Phantasie an ihren empfindlichsten Stellen kitzeln. Ihre strenge Geometrie entbehrt doch alles Forderndem, Zwingendem und Zwanghaftem, denn der Frühling ist nahe. So schmelzen sie dahin, die kleinen Ahnungen von Ewigkeit. Ein wenig glitzern sie noch in der Sonne, einmal noch leuchtet ihr sterblicher Stolz. Dann ist es vorbei. "Nur Wasser", flüstert der Tauwind und streicht mild über die erwachende Landschaft. Der Frühling des Geistes ist ein immerwährender.

Diese Gedanken sind nicht falsch. Aber sie sind vergänglich. Sie werden ihre eigene Wahrheit nicht überleben. So wie die Eiskristalle sich wieder verflüssigen werden, so werden auch sie wieder ganz in dem Geist aufgehen, von dem sie sich nur in der Einbildung zu unterscheiden vermögen.

Freitag, 22. März 2013

Beleidigungen

Man sollte sich aus Beleidigungen nicht viel machen. Der Beleidiger verletzt nicht nur die Person, der seine Worte gelten, sondern immer auch sich selbst. Wir wissen doch, wie wir uns fühlen, wenn wir jemanden fertig gemacht haben. Fühlt sich so wirkliches Glück an? Der Ausdruck einer gewissen Befriedigung liegt auf unseren schadenfrohen Gesichtern, ja. Die göttliche Bosheit, die Nietzsche so gerühmt hat, offenbart jedoch weder den Reichtum noch die Tiefe einer Seele, sondern bloß ihre Unfähigkeit, ohne An- und Übergriffe bei sich zu verweilen.

Wenn mich jemand beleidigt, gibt er mir damit Folgendes zu verstehen: Ich leide und ich mache dich dafür verantwortlich! Oft mag es schwerfallen, diese Perspektive einzunehmen. Ohne tägliche Einübung kann man sie nicht erlangen; es genügt nicht, sie zu "verstehen", weil dieses Verstehen erst durch sich selbst wachsen kann. Es ist eine Praxis. Das Leben spült uns jeden Tag in hunderte von Situationen, denen wir nur unsere Aufmerksamkeit zu schenken brauchen, um die lehrreichsten Einsichten aus ihnen zu ziehen.

Mittwoch, 13. März 2013

Die Quelle

Ihr sucht einen Halt, irgendeinen Punkt, aus dem euch keiner mehr vertreiben kann? Ein System, aus dessen schattigen Winkeln heraus ihr beruhigt auf die Welt hinblicken könnt? Den festen Boden, das sichere Fundament, das himmlische Jerusalem auf Erden als Ergebnis eurer intellektuell geläuterten Arbeit? Eine wohlbegründete Position? Aber wie lange soll euer Standpunkt stehen? Für alle Zeiten? Seid ihr nach dem unwandelbar Wahren lüstern, danach, von Ewigkeit zu Ewigkeit Recht zu haben? Ahnt ihr es denn nicht, dass Geist heißt, auf dem Wege zu sein? Wenn ihr eine Antwort wollt, werdet ihr sie auch bekommen. Wer antwortete euch da aber, wenn nicht eure Ungeduld, auf eine Antwort zu warten? Und was erreichtet ihr, als bestenfalls ein neues Schmuckstück in die Armee eurer Krücken eingliedern zu können?

Es gibt keine Sicherheit ohne Güte und Praxis. Mit anderen Worten: durch das, was man ist, was man tut. Wollt ihr einem mit scharfem Strich gezeichneten Grundriss gleichen? Einem Unbewegten, Toten? Wollt ihr den Menschen eherne Routinen aufzwingen? Wollt ihr, das alle gleich denken, damit ihr nicht mehr zu fürchten braucht, etwas zu lernen? Liebt ihr es, euren Horizont mit Menschen zuzustellen, die euch nicht widersprechen? Aber Sicherheit besteht nicht darin, unangreifbar zu sein, sondern zu wissen, dass man angegriffen werden kann.

Solange ihr nach einem Fundament sucht, vermag euch ein Lachen zu vernichten. Wäre es nicht ungleich schöner, nach warmen Quellen zu suchen? Und wäre das schönste nicht, selbst eine solche Quelle zu werden, zu sprudeln und sich wohltuend zu ergießen, auf eine Weise gleich zu bleiben und sich doch beständig zu wandeln? Man denke etwa an einen buddhistischen Mönch, der seine Aufmerksamkeit einer kleinen Auswahl Sutren widmet, sie rezitiert und singt. Er liest sie jeden Tag. Tut er also jeden Tag dasselbe? Wäre er bloß ein Suchender, hätte er sein Büchlein schon lange beiseitegelegt. És hätte ihn gelangweilt. Auf seinem Gesicht liegt jedoch der Ausdruck von Dankbarkeit und Freude. Was ist hier geschehen?

Montag, 11. März 2013

Verantwortungslos?

Schlichte Gemüter schimpfen gerne auf Menschen, die keine Familie gründen wollen. Das sei unverantwortlich. Sie empfinden es als unerhört, dass die Mühen, die sie sich aufgeladen haben, anderen erspart bleiben sollen. Als ob nicht auch sie die Wahl gehabt hätten, anders zu leben!  "Dann sterben die Deutschen aus." Ja, warum denn eigentlich nicht? "Dann bricht das Rentensystem zusammen." Zeig' mir jemanden, der nur deshalb eine Familie gegründet hätte, um das Rentensystem zu retten. Jetzt mal im Ernst, das sind alles lächerliche Gründe. Rationalisierungen, die aus der dumpfen Angst vor der Freiheit geboren sind. Man übernimmt sehr wohl Verantwortung, wenn man sich gegen eine Familie entscheidet. Sogar eine sehr große. Nicht gegenüber irgendeiner Kasse, einem Volk, dem Deutschtum oder einem sonstigen Kollektiv-Imago, sondern gegenüber den Menschen, die diese Entscheidung konkret beträfe. Wer es wagt, sich die eigene Wahrheit nicht zu verbergen, kann leicht eruieren, ob für sie oder ihn eine Familie eine reelle Option ist oder nicht. Leider ist der infantile Impuls - "Ich will aber auch eine Familie und Kinder haben! Warum gerade ich nicht?" - in vielen Seele wirksam, so dass viele Kinder in ein Leben hineingezwungen werden, das besser nie entstanden wäre, "aus Prinzip".

Dienstag, 5. März 2013

Unendliche Substanzlosigkeit

Die Vorstellung, das Gute könne mit dem Bösen im Kampfe liegen, ist eine Projektion des Bösen. Denn dass dieser Kampf stattfände, bedeutete schon den Sieg des Bösen. Es bedeutete, dass seine Provokation erwidert und damit auch der seelische Unterschied jener beiden Prinzipien zugunsten des bösen Prinzips aufgehoben worden wäre. Das Gute kämpft nicht und siegt nicht. Es ist.

Das Böse kann nur im Schatten überleben; es bedarf der Lüge, der Unklarheit und der leuchtenden Rhetorik, um darüber hinwegzutäuschen, dass es in einem substantiellen Sinne nicht existiert. Es kann nicht triumphieren. Wo immer es siegt, hat es die Herrschaft über eine längst verlöschende Seele errungen. Wer von dieser Seelenkrätze befallen ist, verfügt über ein besonders feines Sensorium für die offen Wunden der anderen. Allerdings nicht, um ihnen zu helfen, sondern um mit aller Kraft in diese Wunden hineinzustoßen. Das Böse drängt danach, Hass und Missgunst auf sich zu ziehen, um nur niemals seiner unendlichen Substanzlosigkeit gewahr zu werden. Nichts fürchtet es mehr, als einen ruhigen Blick auf sich selbst zu werfen. Böse Menschen ahnen wohl, dass sie böse sind, aber sie wagen es nicht, sich zu kennen. Sie ängstigt das Auge, das ihnen bis auf den Grund der Seele sieht, das gütige Auge eines reifen Menschen. In seiner Gegenwart kommen sie sich wie Kinder, Patienten oder beides zugleich vor. Was sie meinten zu sein, liegt in Scherben um sie gestreut. Das darf nicht sein. "Immer diese Gutmenschen, die sich für sonstwas halten!"

Sonntag, 3. März 2013

Ein großer Spaß

Ist es ein Einwand gegen einen Philosophen, dass er nicht glücklich ist? Ich denke ja. Philosophie heißt Liebe zur Weisheit. Wie viel Liebe und wie viel Weisheit steckt in dem, was heute an den Universitäten produziert, getan und gelassen wird? Was nützte es, die zweiundzwanzigtausendste Arbeit über die Kategorien bei Aristoteles in zehn schlaflos durchgearbeiteten Nächten unter dem Einfluss von Nikotin und Koffein so auf's Papier zu rotzen, dass sie dem überreizten und überzüchteten Gehirn des Dozenten wohlschmeckte? Was nützte es, mit einem verworrenen Zorn im Herzen durchzuhalten, um nur irgendwie die verdammte Abgabefrist einzuhalten? Und das nur, um eine Arbeit abzuliefern, die ohnehin niemand lesen wird. Dieses ganze Geschäft wäre eigentlich nur als großer Spaß gerechtfertigt. Aber wer lachte darüber? Die geistige Freiheit, als deren Heimat sich die Universität gerne betrachtet, fehlt - und damit auch das befreiende Lachen freier Geister.

Donnerstag, 28. Februar 2013

Besserung

Wenn eine Besserung überhaupt möglich ist, dann nur dadurch, dass man sich eingesteht, wie abhängig man eigentlich von anderen ist. Deshalb muss die Botschaft vom Tod Gottes immer wieder erneuert werden. Denn jeder Glaube - er drücke sich aus, worin er will - erzeugt die Illusion, es gebe etwas, das einen substantiellen nicht-menschlichen Halt bieten könnte. Aber selbst der tiefste Glaube vermag das Herz nicht so stark zu bewegen, wie das verletzende Wort eines Menschen, den man liebt. Machen wir uns nichts vor: Wir sind aufeinander angewiesen.

So stehen wir schutzlos unter einem Himmel, der sein Geheimnis verloren hat. Die Sterne leuchten über uns. In der Ferne glitzern die Lichter der Stadt. Sie bedeuten nichts. "Das Leben muss unglaublich schwierig sein, so ohne jede metaphysische Notbehausung", sagst du, während sich dein verträumter Blick in der Nacht verliert. ich muss lachen. "Du bist meine Metaphysik."

Dienstag, 26. Februar 2013

Ja, nichts

Denkst du etwas, weil du es denken musst, um zu funktionieren, oder weil du es als das Angemessene erkannt hast? Es ist kein Zeichen von Weisheit, sich in die eigene Abstumpfung zu ergeben. Sätze wie "Das Leben ist eben hart" enthalten nichts außer das Bekenntnis der Unfähigkeit, das eigene Leben zu gestalten.

In Notzeiten muss sich die Seele auch von einem gespielten Lächeln ernähren können. Wenn sie zu wählerisch wird, verhungert sie.

Ich könnte mir eine ethische Maxime wie diese vorstellen: Nimm dir Zeit, über dein Leben nachzudenken! Man würde auf die Frage, ob man schon etwas vorhabe, antworten: Ja, nichts.

Ob man einen Menschen für gut oder schlecht hält; beides ist Wahn. "Das hätte ich nie von der erwartet!" - "Und ich hätte nie gedacht, dass du mich auf so klägliche Weise fälschen würdest."

Nicht das ruhige Wasser des Heimathafens bewegt mein Herz, sondern die Aussicht, neue Meere und Welten zu schauen. Was einmal meine Heimat heißen wird, kann ich jetzt noch nicht einmal erahnen.

Man müsste jedem Menschen so begegenen, als ob er der einzig Überlebende einer großen Katastrophe wäre.

Wer seine Gefühle beachtet, ist viel weniger angreifbar als jemand, der sie zulässt. Wenn ich es wage, mich selber zu kennen, was könnte mich dann noch verletzen? Was könnte man mir dann noch Böses sagen?

Montag, 11. Februar 2013

Grobmaschiges

Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit anderen als Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen. (Nietzsche)

Damit zwei Menschen einander verstehen können, müssen sie sich zunächst aufeinander abstimmen und eine gemeinsame Sprache finden. Wenn die beiden sich noch nicht kennen, werden sie sich hüten, zu viel voneinander abzuverlangen, vielmehr zunächst einmal über Kleinigkeiten reden. Über Dinge, zu denen jeder der beiden leicht einen Zugang findet, zum Beispiel das Wetter, Filme oder ein aktuelles Ereignis aus Politik oder Sport. Menschen, die viel zu schenken haben, die es lieben, sich auszudrücken, zu entwickeln und alle ihre schöpferischen Kräfte ins Leben zu übersetzen, werden schnell darauf drängen, diese erste Stufe hinter sich zu lassen. Denn es schmerzt sie im Grunde, nur zu kommentieren, was in der Welt vorgeht; jede bloß konsumistische Haltung gegenüber dem Leben ist ihnen zuwider. Sie können nur verstehen, was sie selbst tun, fühlen, erleben. Es fällt ihnen oft schwer, die Ironie zu verbergen, mit der sie über Dinge sprechen, die das Interesse anderer so lebhaft erregt. Leider beschäftigen sich die meisten Menschen damit, ihren Ernst auf Dinge zu konzentrieren, die sie selbst gar nicht beeinflussen können. Gleich dem Mond begnügen sie sich damit, empfangenes Licht zu reflektieren, anstatt selber zu leuchten.

Es sind dies keine besonderen Menschen, über die ich hier schreibe, nicht einmal sonderlich "tiefdenkende" Menschen, wie Nietzsche sie nennt, sondern vielmehr solche, die das Leben ernstnehmen und deshalb den Gedanken, ihre kurze Erdenzeit ungenutzt dahinstreichen zu lassen, nicht ertragen können. Sie inspirieren und schenken Kraft, wo immer sie auftauchen. Diese Inspiration zu erleben, ist etwas Wundervolles. Es wäre eine Grobmaschigkeit des Herzens, die Schönheit und Güte, die jene Inspiration erahnen lässt, als kurzweilige Spielerei abzutun, als Phantasterei, als etwas, das mit dem wahren Leben nichts zu tun hätte. Denn das wahre Leben wird genau das sein, was wir aus ihm machen. Dies ist keine verträumte Sonntagssicht. Wer das behauptet, mag sein Leben weiterhin als Sklave fristen und sich mit seinesgleichen verbünden, um jene für irrsinnig zu erklären, die an die Möglichkeit ungeteilten menschlichen Glücks glauben. Nichts fürchtet der Sklave so sehr wie die Erkenntnis, dass er niemals ein Sklave hätte sein müssen.

Dienstag, 5. Februar 2013

Seit ich dich kenne

Seit ich dich kenne, fühle ich mich himmelhoch hinausgeschleudert über alles, was ich bis dahin für mein Glück gehalten habe. Seit ich dich kenne, kann ich meinen Ernst nicht mehr ernst nehmen. Seit ich dich kenne, frage ich mich, wie ich nur habe leben können, ohne dich zu kennen. Bist du nur der Lichtpunkt über einer langgespannten Einsamkeit? Ein ferner Stern, zu weit entfernt, um ihn zu erreichen? Oder bist du eine Flamme, ein junges Feuer, das sich begierig durch alle Herzen hindurchfrisst, um nichts als die Kohlen seiner Liebe zu hinterlassen? Verzeih' dem Dichter, den du aus mir gemacht hast, seine schiefen Metaphern ...

Donnerstag, 31. Januar 2013

Wir gehen schon mal

Er sitzt am Tisch und redet über Gott und die Welt. Darunter macht er's nicht. Es gibt eine Form des Redens, die verletzt, weil sie ein Schweigen über so viele andere Dinge beinhaltet, könnte ein auktorialer Erzähler an dieser Stelle Brecht zärtlich plagiierend einwerfen. Seine Frau ist gereizt, leidet, will weg. Sie würde ihm am liebsten sagen, dass sie sich unwohl fühle, mit ihm ausgerechnet über Politik zu reden. Doch dann schaut sie ihm in die Augen und erahnt das Feuer, das ihn antreibt, mit einer solchen Dringlichkeit über Schuldenprobleme zu reden. Sie sendet einige Zeichen ihres Unwohlseins, denn es tut ihr weh, ihm zu widersprechen. Denn sie müsste ihm sehr oft widersprechen, so oft, dass ihre Beziehung darunter leiden und sehr bald zerbrechen müsste. So schweigt sie weiter und er redet weiter. So schweigt sie an ihm vorbei, während er an ihr vorbeiredet. Die 8-jährige Tochter sitzt daneben und versucht den Ausführungen des Vaters zu folgen. Sie versteht nichts; und sie fragt auch nicht nach, ob er es ihr verständlicher erklären könne, denn sie weiß, dass er es nicht kann, und dass auch sie sein Reden nicht zu bändigen vermag. Gerne würde sie sich mit ihrer Mutter unterhalten - die beiden verstehen einander sehr gut -, aber dann fühlte sich der Vater allein gelassen. Allein mit seinem Reden, mit seinen Themen, die vielleicht sonst niemand mit einer solchen Kleinteiligkeit durchdrungen hat. Er arbeitet bei einer Bank, kennt alle Zusammenhänge, weiß, wie der Hase läuft. Aber er sieht nicht, dass es seiner Frau schlecht geht, er hat überhaupt kein Organ für die vielen feinen Signale ihres Unwohlseins, ja er fasst ihr angesträngtes Lächeln sogar als Zustimmung, als Aufmunterung auf, noch intensiver über Finanzbuchhaltung zu reden.

Endlich kommt ein Kollege vorbei, mit dem der Mann auf Augenhöhe reden kann. Seine Frau atmet durch, sie muss kein Interesse mehr heucheln. Zwar versucht sie noch, sich halbwegs an der Diskussion zu beteiligen, doch ihr Widerwille ist stärker. Sie weiß nicht, wie sie anders als mit störenden Zwischenrufen in jenes ebenso lebhafte wie belanglose Gespräch eingreifen sollte. Immer tiefer versinkt sie in ihrem eigenen Schweigen, bis es sie ganz zu verschlingen droht. Sie streichelt ihrer Tochter durchs Haar, so als wäre darin irgendein Halt zu finden. Vergeblich sucht sie das Lächeln im Gesicht ihrer Tochter zu erwecken. Sie fühlt schmerzhaft, wie sehr ihr Wohlbefinden davon abhängt, dass ihre Tochter sie anlächelt. Doch die schaut sie ebenfalls mit suchenden Augen an. Sie scheinen zu sagen, dass die Mutter dieses väterliche Trauerspiel endlich beenden solle, um den Abend noch in ein gutes Ende überzuleiten. Mit einem Schlag wird der Mutter bewusst, dass sie ihre Tochter so angesehen hat, wie eine Tochter ihre Mutter ansieht. Erschrocken über sich selbst steht sie auf, um sich von ihrem Mann und dessen Kollegen zu verabschieden. "Wir gehen schon mal."

Dienstag, 29. Januar 2013

Sanctus Januarius

Der du mit dem Flammenspeere
Meiner Seele Eis zerteilt,
Daß sie brausend nun zum Meere
Ihrer höchsten Hoffnung eilt:
Heller stets und stets gesunder,
Frei im liebevollsten Muß: –
Also preist sie deine Wunder,
Schönster Januarius!

 
(Nietzsche)

Sonntag, 27. Januar 2013

Überunterirdisches

Es gehört auch zur Menschlichkeit, religiöse Gefühle zu verletzen. Die Welt wäre heute ein besserer Ort, wenn in der Geschichte mehr religiöse Gefühle verletzt worden wären, wenn man, anstatt vor dem Heiligen zu verstummen, es in den Dreck gezogen hätte.

Wie hätte ein Gott, der es nicht einmal verträgt, dass man über ihn lacht, die Kraft aufbringen können, eine Welt zu schaffen?

Vielleicht funktioniert die Religion nur deshalb, weil Gott immer schon tot ist. Dass er niemals antwortet und die Gebete erhört, macht gerade seine Zuverlässigkeit aus. Gott ist in seinem Schweigen sehr konsequent, konsequenter als jeder Sterbliche jemals sein könnte. Man weiß, was man hat, wenn man die Hände faltet: ein konsequentes Nichts. Wenn es Gott wirklich gäbe und er also auch zu antworten vermöchte könnte er den Gläubigen widersprechen. Aber würden sie das Wort eines lebendigen Gottes akzeptieren? Wenn er den Gläubigen geböte, nicht mehr an ihn zu glauben? Könnten sie ihm folgen? Wäre sie dazu überhaupt in der Lage? Solange Gott schweigt, kann man aus seinem Schweigen heraushören, was immer man will. Was aber, wenn er mit einer Zunge spräche?

Dienstag, 22. Januar 2013

Altdamenterror

Der soziophobe Student krümmte sich vor Hunger in seinem Bett. Es half alles nichts; er musste all seinen Mut zusammennehmen, um einkaufen zu gehen. Damit ihn niemand in die Augen sehen konnte - jede Gefühlsansteckung gedachte er zur vermeiden -, trug er eine Sonnenbrille, obwohl der Wintermorgen in seltener Schönheit erglänzte. Endlich hatte er seine Stiefel geschnürt. Er atmete tief durch, öffnete die Tür und trat - zum ersten Mal seit fast einer Woche - aus seiner Wohnung. Als er die Treppen hinunterstieg, zuckte er plötzlich zusammen. Er hatte gehört, wie sich ein paar ältere Damen vor der Haustier unterhielten. Seine beständige, schon lange jeder äußeren Ursache ermangelnde Ängstlichkeit hatte dem Student ein überaus feines Gehör angezüchtet, das nun Alarm schlug. Diese Frauen blockierten den Eingang. Um aus dem Haus zu kommen, dachte der Student, müsse er sie freundlich fragen, ob sie ihn durchlassen könnten. Dem Studenten spritzte der Schweiß nur so aus den Poren und sein Herz begann zu hämmern, als er sich dieses Höllenszenario imaginierte. Er flüchtete zurück in seine Wohnung, um sich zu beruhigen. Vorsichtig hob er die Gardine hoch, um einen Blick auf die Damen zu werfen. Er erkannte Erika, auch Oma Edel genannt, mit der er sich sogar schon einmal unterhalten hatte. Oma Edel hatte sich wirklich mit ihm unterhalten, während der Student immer nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Weil Oma Edel offenbar nicht bemerkt hatte, dass der Student, anstatt sich wirklich mit ihr zu unterhalten, nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten, sympathisierte er mit ihr. Mehr jedenfalls als mit den anderen beiden Damen der Runde. Mit ihnen hatte der Student immer nur Grußworte gewechselt. Er glaubte, dass sie spürten, dass mit ihm etwas nicht stimmen könne. Dieser Glaube vergrößerte seine Angst um ein Vielfaches. Wenn Oma Edel allein vor der Tür gestanden hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, endlich den Wohnblock zu verlassen und einkaufen zu gehen. So aber sah er sich außerstande, vor die Tür seiner Wohnung, geschweige denn vor die Tür des ganzen Wohnblocks zu treten.

Die Damen plauderten gesellig vor sich hin, während der Student im Sessel saß und betete, dass sie endlich aufhören mögen. Immerhin standen die Feiertage vor der Tür und die nächste Tankstelle lag zu weit entfernt, als dass er sie ohne ein Nervendrama hätte erreichen können. Aber irgendetwas musste er doch beißen, wollte er nicht eingehen. Verzweifelt sah er sich in seiner Wohnung um. Aus den Zimmerpflanzen könnte er Tee kochen, dachte er. Doch wovon sollte er sich ernähren?

Nach drei Stunden ging er noch einmal an das Fenster, getrieben von der Hoffnung, der Spuk möge vorbeigegangen sein. Doch zu seinem Entsetzen hatte es sich vermehrt: Jetzt standen vier statt drei ältere Damen gesellig plaudernd vor der Tür des Wohnblocks. Ilse, die unvermeintliche Frau des Hausmeisters, hatte sich auch noch eingefunden, um ihren Wortsaft zu entladen. Ihre ungezähmte und wohl auch unzähmbare Altdamengeschwätzigkeit war im ganzen Block und selbst im Nachbarblock berüchtigt. Wenn sie die Tür blockiert, dachte der Student, werde ich hier niemals herauskommen. Natürlich war auch Ilse eine im Grunde gutherzige Frau, die dem Studenten niemals etwas Böses angetan hätte. Der Gedanke jedoch, dieser Frau in die Augen sehen und sie grüßen zu müssen, überwältigte ihn. Das konnte er nicht. Ihr lebensfrohes Auftreten allein schon hätte genügt, um ihn bis auf den nackten Knochen zu verängstigen. Keinen Menschen fürchtete der Student mehr als Ilse. Doch worüber sprach diese gefürchtetste aller älteren Damen?

"Wir kippen unsere überschüssigen Nahrungsmittel weg und in Afrika verhungern die Kinder. Das ist furchtbar, furchtbar, sag ich dir", sagte sie zu Oma Edel, die ihr heftig nickend zustimmte. Der Student trat mit schwächlich schwankendem Schritt auf seinen Balkon. "Furchtbar, allerdings", säuselte er in einem Anflug von Zynismus, der sich ebenso schnell wieder verflüchtigte wie er gekommen war, und stürzte sich aus dem dritten Stock in die Freiheit. 

Samstag, 19. Januar 2013

Erziehung zur Unmündigkeit

"Die Kinderarbeit schafft sich selbst ab. Denn durch Kinderarbeit entwickelt sich die Wirtschaft. Und wenn die Wirtschaft wächst, steht mehr Geld zu Verfügung, um bessere Löhne zu zahlen, so dass keine Kinder mehr arbeiten müssen." So ungefähr argumentieren die jungen BWL-Studenten, mit denen ich Bekanntschaft machen dürfte. Der Grundtenor ist der eines "Es ist traurig, aber ...". In diesem "aber" steckt die ganze Perfidie, denn auf ihm liegt das Schwergewicht der Argumentation, nicht auf der vermeintlichen Trauer. Wie gesagt, es sind sehr junge Menschen, die so argumentieren, und sich wohl darin gefallen, ihren gerade erst erwachten Verstand auf die verschiedensten Bereiche auszudehnen. Wer auf neoliberal macht, widerspricht dem Zeitgeist. "Es ist schon theoretisch nicht möglich, alle Menschen auf der Welt zu ernähren." Und was folgt aus dieser "traurigen" Feststellung? Überlegungen darüber, was dennoch getan werden könnte, habe ich keine gehört. So jung - und schon so resigniert? Mir scheint, dass der tägliche Verkehr mit globalen Thematiken allzu leicht abstumpft und verdummen kann, besonders dann, wenn es um wirtschaftliche Themen geht. Die Wirtschaft, die Politik, die Griechen, die Bayern - ein einziges großes Sich-wichtig-Nehmen, immerhin schwadroniert man ja über wichtige Themen.

Sie haben mir auch von ihrem Studium erzählt. Von Dozenten, die Studenten wie kleine Kinder vor die Tür werfen, weil sie nicht der Vorlesung folgen, von Multiple-Choice-Klausuren, die maschinell kontrolliert werden, vom Bestreben der Verantwortlichen, möglichst viele Studenten auszusieben, um die gewünschte Durchfallquote zu erzielen, davon, dass ein BWL-Student nicht ein einziges Seminar besuchen kann, er also schon institutionell nicht die Möglichkeit bekommt, einmal etwas Eigenes zu äußern. Diese Studenten fühlen sich unglaublich unter Druck gesetzt. Sie sind sehr unzufrieden mit ihrem Studium. Aber sie wollen eben etwas studieren, "womit man etwas anfangen kann", um jeden Preis. Und sie bezahlen diesen Preis. Ich habe kein einziges kritisches Wort gehört. Das überrascht mich nicht. Das BWL-Studium scheint eine Erziehung zur Unmündigkeit zu sein.

Dienstag, 15. Januar 2013

Ein echter Kerl sein

Je mehr ich über die Männlichkeit nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass sie nicht existiert. Schon Formulierungen wie "ein echter Kerl sein" verweisen darauf, dass Männlichkeit nicht nur auf etwas Natürliches zurückgeführt werden darf, sondern immer auch als Aufgabe betrachtet werden muss. Wer als echter Kerl gesehen werden will, muss ein bestimmtes Verhalten zeigen und bestimmte Auffassungen teilen. Mit anderen Worten: Männlichkeit in diesem Sinne beinhaltet immer auch, einen Mann zu spielen, so zu tun, als sei man einer. Es ist seltsam, wenn man bedenkt, wie sehr viele Männer darum bemüht sind, als einzigartige Individuen zu erscheinen, in Fragen der Männlichkeit jedoch nur eines wollen, nämlich dem Virilitäts-Ideal möglichst nahe zu kommen. Solange man indes ein echter Kerl sein will, ist man keiner. Die Lösung des Problems der Männlichkeit kann also nur darin bestehen, dieses Problem fahren zu lassen. Nur das Besondere kann die Wunden heilen, die das Allgemeine reißt.

Wie viel innige Freundschaft mag zwischen den Männern nicht entstanden sein, weil sie fürchteten, für homosexuell gehalten zu werden? Homophobie ist kein Phänomen, unter dem nur eine gesellschaftliche Minderheit litte. Denn sie erschwert allen von ihr Betroffenen, erwachsen zu werden.

Montag, 14. Januar 2013

Mehr seufzend als leidend

"So gärt sie munter weiter, diese Mischung aus tausend Giften und Abfallstoffen, aus denen meine Seele zusammengebraut ist." Ich war im Begriff, einen Text mit diesen Worten zu eröffnen. Doch ich konnte ihn nicht fortsetzen. Auch wenn ich diesen ästhetisierenden Dekadenzduktus gut beherrsche, sollte ich ihn schleunigst verlernen. Er drückt schon lange nicht mehr aus, was in mir vorgeht, was ich bin. So kommt es, das sich dieser gerade erst niedergetippte Satz in Anführungsstriche gesetzt wiederfindet, in welchen er - mehr seufzend als eigentlich leidend - wie ein schwarz gefärbter Emo-Löwe in seinem Gehege umherschweift.

Man erweckt leicht den Eindruck, ein verständiger Mensch zu sein, wenn man immer nur über Dinge redet, mit denen man sich auskennt.

Es sich hoch anzurechnen, jemanden zu tolerieren, ist ein sicheres Zeichen von Hochmut.

Solange du dich zwingen musst, hast du noch nicht verstanden.


Samstag, 12. Januar 2013

Nachahmung

Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. (Adorno)

Ich kann gar nicht schreiben. Aber ich tue so, als ob ich schreiben könnte. Außerdem ahme ich jene nach, die schreiben können. Irgendwann sagte mir jemand: So wie du will ich das auch einmal können! "Sehr gut", versetzte ich, "dann ahme mich nach, so wie auch ich immer nur nachgeahmt habe!" Es bedarf keines besonders ausgefallenen Verhaltens oder eines originellen Stils, um als sogenannte Persönlichkeit in Erscheinung zu treten. Die Weise, wie man nachahmt, reicht vollkommen aus. Sie offenbart die ganze Individualität.

Es gilt als charmant, jemandem zu sagen, er oder sie sei eine inspirierende Persönlichkeit. Genauso gut könnte man ihm oder ihr allerdings auch folgende Worte zuflüstern: "Ich halte es für äußerst lohnenswert, dich zu kopieren." Im Grunde müsste man drei mal leben, um im dritten Versuch vielleicht einmal weise genug zu sein, nicht mehr improvisieren zu müssen. Aber wir leben nur einmal. Wir wissen nicht, was das alles soll. Deshalb ahmen wir jene nach, die auf uns den Eindruck machen, sie wüssten, worauf es in diesem rätselhaften Dasein ankommt. Und auch diese haben sich - man ahnt es - schon bei anderen abgeschaut, wie man einen solchen Eindruck erwecken kann. Ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert - und von ihnen abschreibt. 

Donnerstag, 10. Januar 2013

Erst einmal darüber nachdenken (Dialog)

Emil: Ich verstehe nicht, was man der Skepsis vorwerfen könnte. Für mich gehört sie zur geistigen Hygiene einfach dazu. Warum ziehen es die Menschen vor, sich selbst einzulullen und ihre Köpfe in die Wolken zu stecken, anstatt die Dinge so zu sehen, wie sie sind? Ich finde das unredlich.

Sophia: Ich treffe viele Menschen, deren Ansichten sich oft gravierend unterscheiden. Solange ich jedoch das Gefühl habe, es mit einem guten Menschen zu tun zu haben, werde ich mich hüten, einen Streit über Meinungen loszutreten. Das ist mir dann einfach nicht wichtig.

Emil: Was aber, wenn dieser Mensch von vollkommen irrigen Prämissen ausgeht, die den Stolz deines Verstandes verletzen müssen? Kann ein Mensch gut sein, der es nötig hat, an Unsinn zu glauben? Und selbst wenn er nicht daran glaubte, wäre es dir nicht unerträglich, ihm nicht zu widersprechen?

Sophia: Ehrlich gesagt interessiert es mich nicht allzu sehr, von welchen Prämissen ein Mensch ausgeht. Natürlich widerspreche ich auch, aber nur dann, wenn ich glaube, dass jemand Dinge sagt, die ich nicht tolerieren kann. An einer geistigen Hygiene, wie du sie verstehst, bin ich nicht interessiert. Wenn mir an ihr gelegen wäre, hätte ich viele bereichernde Gespräche bereits im Keim abtöten müssen. Und wozu?

Emil: Du bist eben ein Mensch, der es nicht so genau nimmt. Solange du meinst, dass es der andere gut mit dir meint, bist du bereit, ihm zu folgen. Ich denke, dass das Falsche immer von Übel ist, ganz gleichgültig, ob ich mit demjenigen, der es ausspricht, sympathisiere oder nicht. Man kann das Gute nicht ohne das Wahre erlangen!

Sophia: Das ist schön gesagt. Was aber, lieber Emil, soll ich mir nun unter dem Wahren vorstellen? Was mich an den Auffassung der Menschen interessiert, ist doch, dass sie mir ganz verschiedene Antworten auf diese eine Frage geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nur eine Meinung wahr sein könnte, während alle anderen falsch sind. Wenn sich die Wahrheit damit zufriedengäbe, sich in nur einer Formel einfangen zu lassen, müsste ich wohl Partei gegen sie ergreifen - zum Wohle all der Menschen, die ich liebe.

Emil: Wenn du dich für die Wahrheit nicht interessierst, interessierst du dich letztlich auch nicht für das, was die Menschen sagen, sondern bloß dafür, dass sie überhaupt mit dir sprechen. So schätze ich dich jedoch nicht ein. Auch jetzt versuchst du doch, mich von deiner Sichtweise zu überzeugen.

Sophia: Ich will dich nicht überzeugen. Was hätte ich davon? Mir liegt nur daran, dass du verstehst, was mir wichtig ist. Wenn es dir schlecht geht, brauchst du irgendeine Krücke, zum Beispiel den Satz eines Philosophen, um dich wieder aufzurichten. Deshalb bist du vielleicht auch so auf Wahrheit fixiert. Ich verstehe das nicht. Als ob die Wahrheit davon abhinge, ob ein Satz wahr oder falsch ist! Als ob alles Wohl und Wehe an einer einzigen Konklusion hängen könnte! Das hat für mich nichts mit Redlichkeit zu tun, eher mit so etwas wie Verstocktheit. 

Emil: Verstocktheit? Willst du mich moralisch disqualifizieren, weil du mich in einem vernünftigen Gespräch nicht zu überzeugen vermagst? Das ist keine gute Angewohnheit von dir, das habe ich dir schon oft gesagt.

Sophia: Und ich habe dir immer wieder widersprochen. Du kannst jemanden, der sich zu Recht aufregt, nicht einfach als dämlichen und unbeherrschten Menschen dastehen lassen. Deine kühle Distanziertheit werde ich wohl niemals erreichen. Aber ich brauche sie auch nicht. Alle meine Hoffnungen tragen die Namen lebendiger Menschen. Menschen, von denen ich weiß, dass sie zu mir stehen. Was nützt mir alle Wahrheit dieser Welt, wenn ich alleine dasäße und es mir dreckig ginge? Ich verstehe nicht, wie man sich mit irgendwelchen zusammengesuchten Maximen und Lebensregeln über Wasser halten könnte!

Emil: Was hält dich über Wasser, Sophia?

Sophia: Warum stellst du mir ausgerechnet diese Frage? Die Menschen natürlich. Sie sind alles, was ich habe.

Emil: Alles? Echt? Darüber muss ich, glaube ich, erst einmal nachdenken.

Rückzug

Du bist sehr schnell sehr weit vorausgestürmt, um deine Fahne in den weichen Sand zu stoßen. "Ja, es ist wirklich so einfach!", hast du in alle Welt hinausgeschrien. Aber keine Sau interessiert sich für den Grund deiner ungestüm wuchernden Euphorie. Du hast gedacht, die Entscheidung herbeigeführt zu haben. Nun allerdings, da sich deine Säfte längst wieder abgekühlt haben, dämmert dir, dass du in die Falle deiner eigenen Hoffnung gelaufen bist. Die Flut kommt; du wirst dich mitsamt deiner Fahne davonstehlen müssen. Selbst wenn du der aufsteigenden Linie des Lebens wieder angehören solltest, bleibt dir nichts anderes übrig, als jetzt den Rückzug anzutreten. Doch obwohl deine Füße schon nass sind, lächelst du.

Wenn man das Leben wie ein Spiel betrachtet, in dem es darum geht, den verborgenen Sinn einer jeden Niederlage aufzudecken, existiert es sich gleich viel besser. Um dieses Spiel zu gewinnen, wirst du dir die ein oder andere Pleite einhandeln müssen. Nein, du bist niemand, der das Scheitern fürchtete. Vielmehr sehnst du es herbei, um ihm endlich den Schrecken austreiben und die Perspektive aufbrechen zu können. Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren. Dass fühlst du in dieser Nacht sehr distinkt. Und am Tage?

Montag, 7. Januar 2013

Vergangenheit

Wähntest du etwa, ich erriete die Repressionen nicht, die du deiner Seele hast antun müssen, um diese weisen Worte zu sprechen? "Der Vergangenheit gewachsen sein" - das heißt meist nur: sie umschreiben, sie so umerzählen, dass das Schlechte in ihr als Überwundenes auftritt, als etwas, das nicht mehr der Fall ist. Man erzählt gerne über seine schlimme Vergangenheit, wenn man das Gefühl hat, dass sie tatsächlich vergangen ist, eben etwas, dass man mit Ruhe und Rührung betrachten kann. Vielleicht kann man nur mit dem Blick des Erkennenden schmerzfrei nach dem Gewesenen zurücksehen.

Freitag, 4. Januar 2013

Differenzen

Die Menschen sind verschieden. Aber was folgt aus dieser Verschiedenheit? Ich wage die Behauptung, dass uns jeder Gedanke schmerzt, der diese Verschiedenheit verabsolutiert. Ob Rassenhass, Neid, Scham, Konkurrenzstreben oder Bosheit, bei all diesen Phänomenen gelingt es dem von ihnen beherrschten Menschen nicht, die Differenz zwischen sich und den anderen zu überbrücken: Er ist allein. Natürlich gibt es auch vielfältige Weisen, die Differenz offensiv zu denken. Manchmal macht es Spaß, jemanden, den man nicht leiden kann, leiden zu sehen. Jeder sportliche Wettkampf lebt davon, dass es Sieger und Verlierer gibt. Den gegnerischen Spieler oder die gegnerische Mannschaft niederzukämpfen, ist irgendwie schön. So ernst man den Sport jedoch auch nehmen mag, er ist nur ein Spiel. Das heißt, dass die Differenz zwischen den Sportlern nur scheinbar gesetzt wird. Eigentlich kann man gut miteinander, auch wenn man sich auf dem Spielfeld gerade umgetreten hat. Es ist ein großer Fortschritt, wenn sich Völker, anstatt übereinander auf Schlachtfeldern herzufallen, sportlich bekämpfen.

Jeder Wettkampf beruht auf etwas Objektivem, sonst könnte es keinen Sieger geben. Im Seminar gibt es kein objektives Kriterium dafür, wer Recht hat. Ergo: Man schwätzt. Hitzige Debatten mögen interessant sein; die Hoffnung jedoch, den anderen durch die bloße Kraft der Argumente umzustimmen, ist naiv. Ich habe noch niemals erlebt, dass sich jemand im Seminar hat überzeugen lassen. Wenn es kein objektives Kriterium für eine Niederlage gibt, warum sollte man sie sich dann jemals eingestehen? Man kann ja immer weiterreden.

Man kann sich nur mit einem Menschen vergleichen, sofern man ihn auf gewisse Aspekte reduziert, etwa das Äußere oder die Intelligenz. Nur in Bezug auf einzelne Aspekte kann ein Mensch besser als ein anderer sein. Jeder schmerzliche Gedanke zergliedert den Menschen in Aspekte, mit anderen Worten: Er bringt ihn um. Wenn ich neidisch bin, neide ich etwas, das der andere hat. Wenn ich jemanden um sein Äußeres beneide, reduziere ich mich auf meine Hässlichkeit. Wenn ich mich aufgrund meiner kaukasischen Haut überlegen fühle, abstrahiere ich freiwillig von mir. Um mich besser als ein anderer zu fühlen, muss ich mich selbst zuerst zugerichtet, reduziert, vereinfacht, ja im Grunde lächerlich gemacht haben. Es mag schön sein, einen anderen  scheitern zu sehen. Ist diese Freude jedoch allzu groß, verrät sie innere Armut. Ob man gewinnt oder verliert, letztlich ist man immer noch etwas mehr als bloß ein Sieger oder Verlierer, nämlich ein konkreter Mensch.

Der gütige Mensch interessiert sich gerade für Differenzen. Er neidet die Schönheit eines Menschen nicht, sondern will ihn noch ein wenig schöner machen, indem er ihn zum Lachen bringt. Wir sind Künstler, die einander verschönern. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man die Differenzen sucht, um sie zu genießen. Mit den eigenen Leuten kann jeder gut. Interessant wird es jedoch, wenn man neue Menschen kennenlernt. Güte ist das Wohlgefallen an der Individualität des anderen. Jeder Gedanke, der das Band zwischen uns wieder knüpft und befestigt, füllt unsere Herzen mit Freude und Zuversicht. Ja, das ist wirklich so einfach!