Montag, 27. August 2012

Kleine Fabel

Der Mönch fegte den Hof, auf dem Languren spielten. Als er den Besen nach ihnen ausstreckte, um sie zu verscheuchen, versteckten sich die Tiere im Wald. Bis auf einen Languren, der sich eine papierne Krone aufgesetzt hatte und mitten auf dem Hof dalag, als ob ihm das Land gehörte.

Aus müde blinzelnden Augen sah er den Mönch auf sich zukommen. „Geh bitte aus dem Weg, damit ich fegen kann“, sagte der Mönch.
„Ich denke gar nicht daran“, erwiderte der Langur.
„Wenn du übermüdet bist oder auf deiner Unbeweglichkeit beharrst, werde ich dich wohl wegtragen müssen.“
„Auch der Wal ist unbeweglich, sobald er einmal gestrandet ist. Aber bedenke: Er ist der König der Meere.“
„Ja“, sagte der Mönch, „aber würdest du ernstlich behaupten wollen, dass die Wale so müde im Wasser hängen wie du?“
„Sieh dir den Tiger an“, sagte der Langur, „er ist das müdeste aller Tiere. Aber was tut er, wenn er einmal wach ist? Er herrscht über den Wald, und zwar uneingeschränkt. Müdigkeit muss nichts Schlechtes sein.“
„Du redest dich heraus. Mit diesen Vorzügen hast du nichts zu tun.“
„Auch die Menschen reden sich heraus. Aber weißt du was? Sie beherrschen alles Getier, lebe es nun im Meer, im Wald oder durchziehe es den Himmel“, sagte der Langur, als wollte er dem Mönch schmeicheln.

Der jedoch fasste seinen Besen, um in dem Affen herumzustochern. Augenblicklich schnellte der Langur hoch und flüchtete zu seinen Freunden, die schon die ganze Zeit hindurch lachend zugesehen hatten.

Donnerstag, 23. August 2012

Der jüngste Morgen

Dieser Morgen sollte nicht ungesehen vorüberziehen. Wenn sie schon nicht einzuschlafen vermochte - sie hatte eine Geschichte gelesen, die so widerlich war, dass sie aus Angst vor ihren Träumen wachliegen blieb -, wollte sie wenigstens gemeinsam mit der Sonne aufstehen. Wie lange war es her, fragte sie sich, dass sie sich diesem natürlichsten aller ästhetischen Genüsse hingegeben hatte? Viel zu lange, befand sie und entschlüpfte vorsichtig, teils bedrückt über die vielen unbestaunt dahingezogenen Sonnenaufgänge, derer sie nun gewahr wurde, teils dankbar, dem jüngsten Morgen beiwohnen zu dürfen, dem Bett, in welchem ihr Freund seinen Rausch ausdelirierte. Um ihm zu sagen, dass sie sich von ihm trennen werde, musste sie ihre abgemagerte Seele mit Schönheit stärken. Sie war es leid, einen Freund zu ertragen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit in genau das verwandelt hatte, was sie am meisten hasste: in einen von denen. Nur solange unterschied er sich durch Witz, Intelligenz und Einfühlungsvermögen wohltuend von den anderen, wie er um sie geworben hatte. Es ist wie mit dem eingezogenen Bauch des Dicken, dachte sie: Irgendwann schwabbt es zurück.

Sie ging bedächtig, jeden ihrer Schritte wie eine Tänzerin ganz bewusst setzend, in den Park. Die Kühle der Nacht hing noch allen Dingen in den Kleidern, doch die ersten Sonnenstrahlen begannen schon die Umrisse des Birkenwäldchens nachzuzeichnen, das den Park umschloss. Bald würde der ganze Park in goldenem Licht leuchten, dachte sie lachend; irgendetwas musste die Dichterin in ihr hervorgekitzelt haben. Sie hielt den Arm ins junge Licht, um ihre golden glänzenden Härchen zu studieren, für die sie sonst keine Augen besaß. Als ein Jogger an ihr vorbeilief, lächelten sich die beiden zu, als wären sie in ein Geheimnis eingewoben gewesen, das der ausdelirierenden Menschheit entgehen musste.

Mittwoch, 22. August 2012

Süße Blasphemien

Nur wer zu einem Christen wie zu einem Patienten spricht, der an Halluzinationen leidet, ihn also überhaupt nicht ernst nimmt, hat eine gute Chance, von seinem Sinn nicht infiziert zu werden. Man darf den Sinn gar nicht erst aufkeimen lassen.

Ich liebe die Desillusionierung. Vielleicht muss man einmal Christ gewesen sein, um die Wonnen des Atheismus voll auskosten zu können. Denn die Religion ist keine reine Verstandesangelegenheit: sie rührt an. Im Gegensatz zu einem Gedanken, den man als falsch verwerfen und nie wieder für voll nehmen kann, ist es ausgeschlossen, nicht mehr religiös zu empfinden, nur weil einem ein Glaubenssystem suspekt geworden ist. Mit nichts, das uns einmal innerlich bewegt hat, können wir vollständig abschließen. Deshalb ist es dem Selbstgenuss viel förderlicher, etwa, anstatt sich einzureden, mit all dem metaphysischen Krimskrams abgeschlossen zu haben, sich hin und wieder hochprozentige, radikal-atheistische Aufklärungsliteratur zu gönnen. Als alter Christ, der man schließlich immer bleiben wird, darf man da lesen, dass Gott nicht existiere, es keinen Himmel gebe, die Kirche eine korrupte Einrichtung sei, intelligente Menschen tendenziell weniger religiös seien etc. Diese Lektüren sind masochistisch, aber im besten Sinne masochistisch: Es gibt wenig, das dem Vergnügen gleichkäme, den kleinen Gott in sich zu kreuzigen. Ihm zuzurufen, dass er nicht der sei, für den er sich halte. Woraufhin er wild wird, denn wer würde sich schon als vermeintlicher Weltenschöpfer auf Arbeitssuche begeben wollen? Dieser kleine Gott kommt immer wieder zu Kräften, so als wäre er Prometheus' Leber. Eigentlich ist diese Praktik nicht masochistisch, sondern sadistisch, denn ich quäle nicht mich, sondern etwas, das ich gleichsam in mir von außen betrachte. Je mehr ich mich vom Glauben befreie, das heißt, je weiter ich mich von ihm entferne, ohne ihn jemals ganz hinter die Horizontlinie meiner Gefühle hinabdrängen zu können, desto süßer werden meine Blasphemien.

Sonntag, 19. August 2012

Das Schwarze Quadrat


Man mag über Malewitschs Schwarzes Quadrat lachen. Sicherlich handelt es sich bei diesem Bild um kein Kunstwerk im üblichen Sinne. Es ist nicht klassisch schön, es sei denn, man ist Liebhaber geometrischer Formen.

"Das kann ich auch", werden viele sagen, die es sehen und nicht begreifen mögen, dass ausgerechnet dieses Bild als Ikone der Moderne gilt. Es wäre sogar leicht möglich, den Meister des Suprematismus zu übertreffen, hat sich doch herausgestellt, dass die Seiten des Quadrats unterschiedlich lang sind, es im strengen Sinne also gar kein Quadrat ist. Aber das ist nicht das Wesentliche. Ein anderer als Malewitsch hätte dieses Bild nicht malen können, nicht, weil es schwierig wäre, schwarze Quadrate zu malen, sondern weil nur jener eine Russe in jenem ausgesuchten historischen Augenblick inmitten des Ersten Weltkrieges eine genügend distinkte, von orthodoxer Metaphysik und der jungen westeuropäischen Malerei inspirierte Vorstellung von Gegenstandslosigkeit entwickelt hatte.

Groys sagt, dass die Avantgarde niemandem gefalle, worin sie sich von der Massenkultur unterscheide. Suprematistische Bilder etwa beleidigen die Alltagsintelligenz, die, gewohnt in jedes menschliche Erzeugnis einen Sinn hineinzuentdecken, sich in den eigenen Schwanz beißt. Die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ist das Symbol für die Tautologie. Das Schwarze Quadrat ist das Schwarze Quadrat: Jede über diese Feststellung hinausgehende Interpretation erzeugt überflüssigen Sinn, der Klarheit nicht schafft, sondern zerstört. Das Schwarze Quadrat kann den Betrachter dazu bringen, über sein Denken nachzudenken. Was sich hinter diesem Bild verbirgt? Die Wand des Russischen Museums in Sankt Petersburg!

So wie wir unsere Haustiere zur Stubenreinheit erziehen, so sollten auch wir uns dazu ermuntern, nicht unter allen Umständen Sinn aus uns herauszuwürgen. Die Sinnlosigkeit unserer Zeit ist  eine Hypertrophie des Sinns: Es gibt zu viel Sinn bzw. Sinnangebote, die sich gegenseitig aufheben. Was wir brauchen, ist etwas Unplausibles, etwas, dass sich, ähnlich einem Hund, der sich die Nässe aus dem Fell schüttelt, nicht etikettieren lässt. Denn Hand aufs Herz: Niemand weiß genau, was es mit dem Schwarzen Quadrat auf sich hat. Und wer meint, aus diesem Text irgendetwas gelernt zu haben, der ist noch zu schlau für seine Weisheit.

Montag, 6. August 2012

Wo es umkippt

Oh fishy human being! Man ist in tausend Dialektiken eingewoben und kann nie sagen: Aber so ist es! Wenn ich etwa sage, dass es mir für die Welt leid tue, weil ihr Geschrei vor meinem Wachsein nicht bestehen könne, so ist damit noch lange kein Sieg angezeigt. Ich kann die gespenstische Autonomie eines Weininger nie lange durchhalten. Auch in mir sprudeln die warmen Quellen des Lebens, die es niemals zulassen werden, dass ein Gedanke über Leib und Seele gänzlich Herr werde. Auch in mir stürmen die Massen, die dem Vereinzelten, der nicht mit ihnen zieht, Schuldgefühle einraunen. Schuld ist Vereinzelung; aber es ist immer nur der Einzelne, der denkt. Die Konzentration lässt nach, die zwingende Folgerichtigkeit verliert sich in Rhetorik, nichts passt mehr zusammen, ich muss einen Schnitt machen. Es gibt da diesen Punkt, wo alles umkippt, einfach umstürzt, einstürzt. Um ihn zu finden, muss ich nur "Geschlecht und Charakter" aufschlagen und ernstlich durchlesen. Auf diese Weise kann ich leicht Kopfschmerzen herbeiführen. Aber der Geist wehrt sich gegen seine Misshandlung, und auch die tieferen Seelenschichten brodeln vor Erregung; sie wollen nicht ans Licht gezerrt werden; die Seele will nicht erkannt sein. Der Wille zum Leben strebt danach, sich die Wahrheit über sich zu verdecken. Er lässt mich, anstatt weiterzuforschen, hungrig oder müde werden oder Olympia ernstnehmen. Ich will die Radikalität auf die totalst absoluteste Spitze treiben; er nur seine Ruhe. Und er ist mächtiger; immer wieder begradigt er mein ausgerenktes Bewusstsein, bis es wieder glatt daliegt wie ein Teich, in dem sich das letzte Licht des Tages spiegelt.