Montag, 22. Oktober 2012

Die Reinkarnation der Vorurteile

Sobald ein Mensch zu denken angefangen hat, werden die Normalität und die Selbstverständlichkeit die ersten Opfer seines Denkens sein. Diese ebenso unbeweglichen wie herausgeputzten Kinder des Vorurteils vermögen sich nicht zu wehren oder zu verteidigen; der Verstand mobbt und piesackt sie, bis es sie es endlich satt haben, zu existieren. "Wie wenig Theorie und Bosheit doch nötig war, um die Gespenster zu verscheuchen!", so wundert sich der Mensch über seine jungen, gerade erst erwachten Kräfte und die klaffenden Wunden, die sie der Realität zugefügt haben. "Es ist vorbei!" Normalität und Selbstverständlichkeit nehmen vor seinen Augen den giftigen Trunk zu sich; sie geben sich geschlagen. Für immer? Was ist das für ein hintergründiges Lächeln auf ihren Gesichtern? Über welch verborgene Weisheit verfügen sie, die der Denkende nicht einmal dunkel zu ahnen scheint? Sie sterben mit einem Lächeln, so als wollten sie sagen: "So wie wir jetzt sind, können wir dir nichts mehr anhaben. Darum räumen wir das Feld. Doch wisse: Wir werden wiederkommen, in anderer Erscheinung, gehüllt in andere, fremdere, lockendere Worte. Du wirst uns nicht wiedererkennen; zu süß und zu unbekannt werden wir dir auf der Zunge liegen. Und wisse: Du wirst uns dienen, und zwar gern und von Herzen!"

"Nein, ihr seid vernichtet!", schreit der Mensch die Sterbenden an, deren letzte Zuckungen ihn innerlich aufwühlen. Auf ihren toten Gesichtern hat das Lächeln überlebt, das ihn so beunruhigt. "Es ist vorbei!", sagt er noch einmal, als könnte er diese Aussage durch ihre Wiederholung wahr machen. Er fühlt sich bis in seine innerste Existenz hinein gekitzelt, ohne jedoch lachen zu können, weil er sich bewusst ist, das Objekt dieses Lachens gewesen zu sein.

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