Montag, 29. Oktober 2012

Heiße Luft

Platons Höhlengleichnis zieht seine suggestive Kraft aus der Vorstellung, dass es so etwas wie wahres Wissen gebe. Der Freigelassene schaut mit schmerzenden Augen in das Licht der Sonne, die die Wahrheit symbolisiert, während seine Gefährten nach wie vor gefangen in der Höhle sitzen und die Schatten, die man vor ihnen vorüberspielen lässt, mit dem Sein der Dinge verwechseln. Die Metaphorik der Aufklärung funktioniert ähnlich. Lange herrschte die Nacht, das "dunkle Mittelalter", doch jetzt suchen sich die ersten Sonnenstrahlen einer neuen, einer lichteren Zeit ihren Weg durch das Dunkel.
 
Für einen Skeptiker sind diese Gleichnisse und Metaphern natürlich höchst problematisch. Denn er glaubt nicht, dass sich eine absolute Wahrheit ausmachen lässt - und damit kann er auch nicht publikumswirksam zwischen dem Licht der Sonne und den Schatten der Höhle unterscheiden. Er ist strukturell derjenige, der die Dramaturgie durcheinanderbringt, die ohne das Pathos der Wahrheit nicht denkbar ist. Seine Nacht wird niemals einer Morgenröte weichen, eben weil er keine Nacht kennt, sondern bloß einen Nebel, in dem eines so gut wie das andere ist. Er will niemanden aus der Höhle befreien, weil es für ihn keine Höhle gibt. Gleichzeitig ist er eine zutiefst humane Figur, weil in seinem Denken weder Hierarchisierungen noch Elitenbildungen auf der Grundlage von Wissen möglich sind. Ein Skeptiker kann vieles, aber eines gewiss nicht: sich auf sein Denken etwas einbilden. Er produziert eben nur heiße Luft. Dass er dies weiß und trotzdem lächeln kann, macht seine subversive Menschlichkeit aus.

Dienstag, 23. Oktober 2012

Präge die Münzen um!

Diogenes von Sinope im Gespräch mit einer Hetäre

Jenes Orakel von Delphi, das Sokrates einen narzisstischen Bärendienst erwiesen hatte, indem es ihn zum weisesten aller Menschen erklärte, sollte auch für einen anderen, mir näher verwandten Geist eine Botschaft bereit halten. So riet es dem Kyniker Diogenes, die Münzen umzuprägen. Münzen umprägen? Ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, in diesem Rat nicht sofort eine Metapher herauszulesen, wohl auch deshalb, weil es noch einen anderen Denker gibt, bei dem das Motiv der Umprägung eine zentrale Rolle spielt.

Nietzsche wird jene Anekdote gekannt haben. Die Darstellung des Diogenes Laertius über das Leben berühmter Philosophen, die sie überliefert, hat ihn sehr interessiert und beeinflusst. Er selbst sollte bekanntlich nicht von Umprägung, sondern von Umwertung sprechen, genauer: von der "Umwerthung aller Werthe". Auch bei ihm spielt, ähnlich wie bei Diogenes, "der Skandal der Wahrheit" (Foucault) eine große Rolle; er will schockieren, will den Menschen zeigen, dass die im Umlauf befindlichen Werte längst abgegriffen und abgeliebt sind. Zu seinem Pathos gehört natürlich, dass er der Einzige ist, der das erkennt.

Aber Nietzsche war nicht radikal genug. Wer Münzen und Werte umzuprägen gedenkt, bleibt ganz diesseits von Gut und Böse; er wechselt lediglich die Vorzeichen aus.

The irony of posthumous life! Man achte auf die elitär niedrige Auflage von 500 Stück ;)

Montag, 22. Oktober 2012

Die Reinkarnation der Vorurteile

Sobald ein Mensch zu denken angefangen hat, werden die Normalität und die Selbstverständlichkeit die ersten Opfer seines Denkens sein. Diese ebenso unbeweglichen wie herausgeputzten Kinder des Vorurteils vermögen sich nicht zu wehren oder zu verteidigen; der Verstand mobbt und piesackt sie, bis es sie es endlich satt haben, zu existieren. "Wie wenig Theorie und Bosheit doch nötig war, um die Gespenster zu verscheuchen!", so wundert sich der Mensch über seine jungen, gerade erst erwachten Kräfte und die klaffenden Wunden, die sie der Realität zugefügt haben. "Es ist vorbei!" Normalität und Selbstverständlichkeit nehmen vor seinen Augen den giftigen Trunk zu sich; sie geben sich geschlagen. Für immer? Was ist das für ein hintergründiges Lächeln auf ihren Gesichtern? Über welch verborgene Weisheit verfügen sie, die der Denkende nicht einmal dunkel zu ahnen scheint? Sie sterben mit einem Lächeln, so als wollten sie sagen: "So wie wir jetzt sind, können wir dir nichts mehr anhaben. Darum räumen wir das Feld. Doch wisse: Wir werden wiederkommen, in anderer Erscheinung, gehüllt in andere, fremdere, lockendere Worte. Du wirst uns nicht wiedererkennen; zu süß und zu unbekannt werden wir dir auf der Zunge liegen. Und wisse: Du wirst uns dienen, und zwar gern und von Herzen!"

"Nein, ihr seid vernichtet!", schreit der Mensch die Sterbenden an, deren letzte Zuckungen ihn innerlich aufwühlen. Auf ihren toten Gesichtern hat das Lächeln überlebt, das ihn so beunruhigt. "Es ist vorbei!", sagt er noch einmal, als könnte er diese Aussage durch ihre Wiederholung wahr machen. Er fühlt sich bis in seine innerste Existenz hinein gekitzelt, ohne jedoch lachen zu können, weil er sich bewusst ist, das Objekt dieses Lachens gewesen zu sein.

Samstag, 20. Oktober 2012

Die Vorzüge der Religion

Religiös zu sein bedeutet, eine Macht anzuerkennen, die größer ist als man selbst. Das lateinische religio lässt sich mit "Zurückbindung" übersetzen. Der religiöse Mensch erkennt nicht nur an, dass es eine Macht gibt, die seine Kräfte übersteigt, sondern er nimmt auch an, dass ihm diese Macht gewogen sein und dass er sich deshalb an sie zurückbinden könne.

Der Mensch, als das Stiefkind der Natur, wird, solange es ihn gibt, seinen Traum von der irdischen Heimat weiterträumen. Auch wenn das Leben ihn schrecken und ängstigen mag, wird er doch niemals freiwillig sich davon abbringen lassen, diese Welt zu der seinigen zu erklären. Lieber noch wird er aus ihrem Schweigen die unergründliche Weisheit einer höheren Macht herauslesen, als sich einzugestehen, dass er nur zu seinem eigenen Herzen spricht. Indem er religiös wird, fühlt er den Herr der Welten (oder sonst jemand) in seinem Rücken und fühlt sich zu Hause, wohin immer es ihn auch verschlägt, denn er weiß: "Der, auf den es wirklich ankommt, ist auf meiner Seite. Mir kann nichts geschehen."

Während der Atheist verzweifelt darüber nachdenkt, wie er seine Miete bezahlen soll, geht der religiöse Mensch ruhig seinen Gang. Er fürchtet sich nicht vor dem, was kommen wird, denn er weiß: "Ich habe die Ewigkeit auf meiner Seite. Mein Glaube weist nicht nur über den springenden Augenblick, sondern über das Ende der Zeit selbst hinaus." Nichts kann den religiösen Menschen ernstlich treffen, solange er nur Freiheit genug hat, sich tröstende Gedanken zu machen. Allem kann er mit größter Gelassenheit entgegensehen.

Der religiöse Mensch denkt seine Existenz vor allem von der Macht her, an die er sich rückbindet. Damit stellen sich für ihn viele Fragen nicht, die dem metaphysisch Obdachlosen das Leben zur Hölle machen. "Ich bin eben so, wie Gott mich haben wollte. Mein Leben ist ein Geschenk Gottes, für das ich unendlich dankbar bin." Daran ist etwas Wahres, denn soweit wir wissen, liegt im Grunde nur sehr wenig in unserer Hand. Wir entscheiden nicht darüber, als was wir geboren werden, ob als Mensch oder Gras. Wir suchen uns unsere Eltern nicht selbst aus. Unsere Eigenschaften können wir veredeln und unsere Fähigkeiten bestmöglich entwickeln, aber wir können nicht frei wählen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten uns auszeichnen werden.

Muss sich ein aufgeklärter Mensch, der auf sein Selbstdenken stolz ist, angesichts dieser Vorzüge der Religion nicht fragen, ob er etwas falsch gemacht habe?

Sonntag, 14. Oktober 2012

Der Gummifarmer

Der Gummifarmer ist überzeugt, dass diejenige Gesellschaft die aufgeklärteste ist, in der am meisten rumgenölt wird. Das Glück könne nicht das Kriterium der aufgeklärtesten Gesellschaft abgeben, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, weil es keinen Konsens darüber geben könne, was es mit dem Glück eigentlich auf sich habe. Und wolle man sich darüber verständigen, sei der Keim des Rumnölens bereits gelegt. Wo man das Glück ernst nehme, werde über das Glück genölt, unausweichlich. Das kategorische Rumnölen, so der Gummifarmer zu seinem Huhn, sei das einzige Prinzip, dem er sich verantwortlich fühle. Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer zur Jauchegrube, um sein Kübelchen bis zum Rand mit Scheiße zu füllen. Der Hahn kräht. "Boah, halt die Fresse!", denkt der Gummifarmer, der sein Kübelchen abstellt, um noch einmal zur Scheune zu eilen. Er hat seine Gummistiefel vergessen. Mit den Gummistiefeln an den Füßen fühlt er sich gleich viel besser. "Ich gehöre weder dem linken noch dem rechten Spektrum an", lässt er das Huhn wissen, das in einiger Entfernung gleichgültig pickt, "mein Reich ist die Schmollecke." Das Huhn widerspricht ihm nicht.

So geht der Gummifarmer mit dem Kübelchen voller Scheiße durch das Dorf, bis er endlich beim Haus des Dorfschuhmachers angekommen ist. "Dorfschuhmacher, zeige dich! Heute tragen die Leute im Dorf Gummistiefel. Du bist abgewirtschaftet!" Der Dorfschuhmacher tritt vor seine Tür, dabei begleiten ihn seine Frau, seine zehn Kinder (fünf Männer, fünf Frauen) und seine siebzehn Enkelkinder. Auch die Lehrlinge des Schuhmachers zeigen sich; es sind insgesamt vier (einer ist betrunken). Der Äpfler und der Birner, die sich ansonsten überhaupt nicht riechen können, stehen vereinigt durch ihre Neugier am Zaun, um sich die Forderungen des Gummifarmers anzuhören. Auch ihre Frauen und Kinder glotzen aus den Fenstern der Nachbarhäuser herüber, andere strömen auf die Straße, um dem Gummifarmer aus nächster Nähe zu sehen. Nach wenigen Minuten scheint das ganze Dorf auf den Beinen zu sein.

Die Blicke des Gummifarmers und des Dorfschuhmachers kreuzen sich. Vielen kommt es vor, als ob die Erde leicht bebte, so intensiv sehen sie sich an. Endlich löst sich der Dorfschuhmacher aus dem Kreis seiner Familie und geht ruhigen Schrittes auf den Gummifarmer zu. "Tu' es nicht!", fordert er den Mann auf, der ihm herausfordernd sein bis zum Rand mit Scheiße gefülltes Kübelchen entgegenstreckt. Er tut's. Er gießt das Kübelchen ins Gebüsch am Rande jenes Weges aus, an den auch das Haus des Dorfschuhmachers grenzt.

Dienstag, 2. Oktober 2012

Zerknitterte Gesichter

Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein. (Kafka)

"Es ist eben so." Man schaue sich die Gesichter genau an, über deren Lippen diese Worte kommen. Verraten ihre Züge nicht eine geheime Wut, einen unausgesprochenen Zorn auf jene, die es wagen, einfach weiterzufragen, wo sie sich der Antwort schon sicher wähnten? Nietzsche hat den Menschen das nicht festgestellte Tier genannt. Es ist nicht festgestellt, aber es strebt danach, sich festzustellen, um endlich zu erkennen, was es sei, was es tun solle, warum es lebe. Doch jede Antwort, die es erhält, ist immer nur seine eigene; die Natur schweigt, was immer der Mensch auch in sie hineindichten mag.

Das, was wir für unseren Charakter halten, ist nicht einfach vorhanden. Vielmehr wollen wir, dass da etwas wie ein Charakter sei, damit die groben Finger unseres Verstandes etwas zum begreifen haben. Die Begierde, etwas zu sein, ist das ganze Sein. Tiefer reicht das Wasser der Identität nicht; wir können in ihm nicht ertrinken. Jeder, der "Ich bin ..." sagt, gleicht einem bequemen älteren Herrn, der sich in sein Sofa fallen lässt. "Ich bin eben der und der. Daran kannst auch du nichts ändern." Mit einer solchen Haltung mag man sich einige Zeit lang gut über Wasser halten. Sie wird einem aber spätestens dann auf den Kopf fallen, sobald man einzusehen beginnt, dass man sich eigentlich nicht ernst nehmen kann, solange man sich als etwas Nun-einmal-so-Seiendes begreift. Nur der Stein ist, was er ist, und zwar souverän und ohne zerknittertes Gesicht.