Für S.
Um die Religion zu kritisieren, genügt es nicht, darauf hinzuweisen,
dass in der Welt keine Zeichen eines göttlichen Wirkens zu finden seien.
Wenn es Gott gäbe, wie es etwa einen Menschen geben kann, gäbe es
vermutlich keine Religionen. Dass Gott nicht existiert, ist die
Bedingung des Glaubens an Gott. Dies gilt jedoch nicht für das, was man
klassisch Seele genannt hat. Für sie bestehen Dinge, die ihren Ursprung in der
Erfahrung haben, ruhig neben anderen, die aus metaphysischen Träumen
geboren sind. Wenn Religionskritik etwas bewirken soll, darf sie sich
nicht darauf beschränken, auf die inneren Widersprüche der heiligen
Schrift aufmerksam zu machen oder die Heiligkeit angeblicher Wunder zu
enttarnen. Ob Jesus Blinde sehen gemacht hat oder nicht, ist ein Detail,
an dem der Glaube des Gläubigen nicht hängt. Man könnte hier fragen,
was wirklicher sei, die Dinge in ihrer nackten Faktizität oder die
Gedanken und Empfindungen, die der Betrachter in sie hineindichtet? Die
Orientierung an empirischen Fakten, von der die modernen Naturwissenschaften
leben, ist nur eine, vergleichsweise junge Weise der Weltdeutung. Die
Frage, welcher dieser beiden Wirklichkeiten man den Vorzug gibt, der
inneren oder der äußeren, ist alles andere als entschieden. Ist die
Hostie der Leib Christi oder nichts weiter als ein ungesäuertes Brot?
Die Naturwissenschaften werden niemals zu dem Ergebnis kommen können, dass die
Hostie der Leib Christi sei; sie sind für diese Fragen überhaupt nicht
zuständig. Dies ist wohl auch der Grund, warum Diskussionen über
Religion regelmäßig zu nichts als einer Vertiefung des Grabens zwischen
den streitenden Parteien führen.
Der psychologisierende Ansatz scheint mir ebenso verfehlt. Denn wer den Glauben als ungesundes, vielleicht sogar krankhaftes Verhalten wertet,
muss sich dazu eines Maßstabes bedienen, der zu subjektiv und den
historischen Veränderungen zu stark unterworfen ist, als dass er einen
Gläubigen, der offenbarte und in Stein gemeißelte Wahrheiten auf seiner
Seite hat, beeindrucken könnte. Den Satz Dostojewskis, dass ohne Gott
alles erlaubt sei, deute ich wie folgt. Gott ist die Macht, die allen
gleichermaßen zustößt. Deshalb können nur vor Gott alle Menschen gleich
sein. Er ist jene Instanz, die unbestechlich über allen Dingen thront.
So sieht es zumindest in der Theorie aus. In Wahrheit fanden sich immer
Menschen und Gruppen, die sich Gott näher wähnten und deshalb mit gutem
Gewissen Leid über andere brachten. So auch heute.
Wenn der göttliche Maßstab verschwindet, um auf Dostojewski
zurückzukommen, verlieren die Konflikte ihren Heiligenschein: Es bleiben
nur die konkreten Interessen konkreter Menschen übrig, die miteinander
im Kampf liegen. Zwar gibt es nach wie vor überindividuelle Instanzen,
zum Beispiel Traditionen, Gesellschaft oder Gesetze. Aber auch in diesen
drücken sich nur gewisse Interessen aus. So wie man in der Natur nach
Ursachen fragt, so ist man heute gewohnt, nach den Motiven hinter den
menschlichen Werken zu fragen. Mit einem Wort: Nichts ist mehr heilig.
Das gilt auch für die Kategorie der psychischen Gesundheit. Was noch vor
wenigen Jahren als perverse Praktik gegolten hätte, dient heute als Stoff
für Bestseller. Sobald sich das schlechte Gewissen aufzulösen beginnt,
etwas Krankhaftes zu tun, hört auch die Krankheit auf, zu sein. Sofern
sie eine bloß konstruierte, mithin ein Kind des bösen Blicks gewesen
ist.
Deshalb sollte die Religionskritik als Moralkritik ansetzen. Denn ohne
eine Moral wäre die Religion bloß ein phantasievoll ausgestaltetes
Konglomerat überlieferter Erzählungen für Leute, denen die Realität
nicht interessant genug ist. Aber das ist sie nicht; in ihrem Namen ist
gefordert, gefoltert und vernichtet worden. Die beste Möglichkeit,
Religion zu kritisieren, besteht für mich darin, die Gläubigen auf die
moralischen Widersprüche aufmerksam zu machen, in die sie sich verstricken.
Ich präferiere also die gute alte immanente Kritik. Insbesondere gegen
das Christentum als Religion der Liebe lässt sich so viel ausrichten.
Leider auch hier nur der Theorie nach. Denn es ist überhaupt kein
Problem, mit der Bibel gegen die Nächstenliebe oder für den Krieg zu
argumentieren, wenn man sich mit dem Text einigermaßen auskennt. Aber dass
über diese Dinge diskutiert wird, ist an sich bereits ein Schlag gegen
den Fanatismus. Machtlos ist die Kritik nur, wo ihre Gegner sich von
vornherein in Schweigen hüllen und das Gespräch mit den Ungläubigen
kategorisch ablehnen.
Ich mag deinen blog sehr, hab Ihn leider heute erst entdeckt und mich schon ein wenig durchgelesen :) ich hoffe ich habe bald etwas zeit zum kommentieren .... Auf jedenfall freut es mich, dass ich mal was vernünftiges zu lesen habe in der bloggerwelt ;)
AntwortenLöschenLieben gruß anna maria
Zu schade, dass du dich bei dem Absatz über den „psychologisierenden Ansatz“ so kurz gefasst hast – den empfinde ich nämlich als einen der interessanteren. Da ich in derlei Hinsicht schon etwas belesen bin (den kleinen Freud auf der rechten Schulter, man denke von ihm, was man wolle), möchte ich sagen: Religion wird vielfach nicht als „krankhaft“ dargestellt, sondern viel eher als natürlich – Freud hält sich in diesem Sinne an den Vaterkomplex, beschreibt Gottglauben demnach als logische Konsequenz eigener Ohnmacht etc.. Insofern betrachtet ist der Ansatz der Psychologie also kaum abhängig von historischen Veränderungen, beschreibt viel eher einen Instinkt, der wohl kaum vergehen wird.
AntwortenLöschenZum Dostojewski-Absatz: es gibt doch auch Menschen, welche sich Gott besonders fern fühlen / nicht an Gott glauben und aus genau diesem Grund Leid über andere bringen – weil sie „drauf scheißen“? Im Bezug darauf scheint mir die Existenz Gottes nicht wirklich von Belang.
Wie du das Entblößen menschlicher Interessen ohne Gott beschrieben hast, gefällt mir allerdings recht gut. Aber: sind wir in dieser Hinsicht nicht längst „ohne Gott“?
Deinem letzten Absatz bin ich recht zugeneigt, muss ich gestehen. Besonders der letzte Satz „Machtlos ist die Kritik nur, wo ihre Gegner sich von vornherein in Schweigen hüllen und das Gespräch mit den Ungläubigen kategorisch ablehnen“ , als Abschluss mit offener (Nicht-)Anklage sagt mir zu, weil er den Konflikt mehr oder minder dastehen lässt, wie er ist.
Allerdings muss ich noch anfügen: deine Meinung, dass die Religionskritik als Moralkritik ansetzen solle, kann ich nicht wirklich gutheißen. Ich denke vielmehr, dass man etwaigen (falschen) Moralvorstellungen den religiösen Boden unter den Füßen wegzuziehen hat, dass diese folglich „entzaubert“, weil ihrer Gottgegebenheit entledigt werden sollen. Insofern müsse man mancherorts erst die Religion „ausschalten“, bevor Kritik an der Moral überhaupt möglich wird.
Grundsätzlich wollte ich meine Antwort ja schon gestern abtippen - war dann jedoch recht spontan unterwegs, man kennt das ja.
Herzlichst,
S.