Donnerstag, 14. Juni 2012

Dein Schicksal sind die Menschen

Nie wieder anbeten wirst du die heilige Madonna und in ihr preisend verehren, was du in den Menschen nicht finden kannst. Nie wieder zitieren wirst du, was des Menschen beklommenes Herz zur Tröstung sich schuf. Nie wieder wirst du dich unerkannt rühmen, die Welt mit den Augen eines Buches und also schlecht zu sehen. Und was ist die Bibel anderes als ein Buch? Reiß dir das Papier aus den Augen! Du wirst den Altar der himmlischen Liebe nie wieder mit einem Kranz verschönern, nie wieder eine Kerze in ihrem Namen entzünden, nie wieder ihrer gedenken und danken mit gefalteten Händen. Denn diese Liebe ist gefälscht in deinem Herzen, das nur ein Buch von einem Herzen ist. Breche mit dieser Liebe und deinem Herzen, wie es bisher schlug und vor allem nicht schlug. Richte deine Sinne nicht mehr nach dem Heiligen aus, verliere dich nicht in die Unendlichkeit der Wünschbarkeiten, sondern erziehe dich, den Menschen, wie sie sind, in die Gesichter zu schauen, ohne zu erröten. Dein Schicksal sind die Menschen, diese Menschen.

Montag, 11. Juni 2012

Das Brot der Kontrafaktizität

Alle Hoffnung nährt sich vom Brot der Kontrafaktizität. Gerade wenn wir aufhören, die Befriedigung unserer Sehnsüchte zu bedenken, was immer auch heißt, die Welt zu bedenken, in der diese Sehnsüchte einzig befriedigt werden können, reinigen wir unsere Empfindungen von den mitgeschleiften Ungereimtheiten bloßen Dahinlebens. Mit anderen Worten: Hin und wieder tut es gut, etwas rundheraus zu behaupten, um sich seines Strebens zu versichern. Wer anmahnt, wie gern angemahnt wird, dass eine Meinung bloß eine Behauptung, weil unbegründet sei, verkennt die Riesenkraft, die dem reinen Behaupten entbunden werden kann: die Hoffnung. Der Hoffende weiß, dass er seine Behauptung einem anderen nicht plausibel machen kann, weil sie jedes Zusammenhangs mit der faktischen Welt entbehrt. Indem wir von einem Menschen fordern, dass er Gründe für sein Handeln angeben müsse, um überhaupt als ernstzunehmender Gesprächspartner in Frage zu kommen, schmieden wir ihn in Ketten und andere, nicht nur eiserne Nabelschnüre.

Der Mensch ist nicht nur als ein Gewordener zu behandeln; er fühlt sich nur dann bei sich zu Hause, wenn er außer Haus ist, sich immer auch als Werdenden erlebt. Das, was noch nicht ist, konstituiert seine Wirklichkeit. Niemand kann zehn Jahre lang auf seinem Bett liegen und zusehen, wie der Putz von der Decke bröckelt. Wer dies versucht, wird des Todes sterben.

Sonntag, 10. Juni 2012

Der Schwanenfütterer

Der Schwanenfütterer konnte nicht einschlafen. Er nahm seinen Mantel, schnürte die Stiefel und ging hinaus, um unter dem Vollmond zu wandeln. Niemand begegnete ihm. Im Wohnblock am See sah er nur noch ein Licht brennen. Krueger, dachte er, das muss Krueger sein. Krueger war ein spielsüchtiger Student, den der Schwanenfütterer einmal am See getroffen hatte, als dieser, wie er selbst, nicht einschlafen konnte. Die beiden empfanden keinerlei Sympathie füreinander; was sie lose verband, war etwas anderes, eine Art Loyalität, die Loyalität jener, die einander in ihrer ganzen nackten Einsamkeit gesehen haben. Der Schwanenfütterer zögerte, zögerte bis zuletzt, Krueger zu besuchen, der vielleicht gerade beim Versuch, den ewigen Jackpot zu knacken, seinen letzten monetären Lebensnerv durchtrennte. Zwar stellte der Schwanenfütterer einen erfahrenen, vollausgeprägten Mann vor, an dessen freundlichem Gesicht man sich nicht sattsehen konnte. Und doch fühlte er sich dem Studenten unterlegen, uferlos, himmelhoch unterlegen, denn was hätte er, der Schwanenfütterer, schon von sich erzählen können? Dass er Schwäne fütterte? Krueger hatte damals nicht gelacht, als der Schwanenfütterer ihm seine Profession offenbarte. Er hatte schlicht geschwiegen und das Gespräch in eine anderer Richtung gelenkt, in welche, das wusste der Schwanenfütterer nicht mehr. Nur an Kruegers Schweigen erinnerte er sich, und zwar schmerzlich.

Der Schwanenfütterer kam zu der Hütte, in der er das Schwanenfutter aufbewahrte. Nur er hatte den Schlüssel zur Hütte, dachte er, nur er allein. Er legte sich ins Gras, schloss die Augen und öffnete seine kleinen Ohren dem Rauschen der Nacht. Lastkraftwagen, Bahnen. Plötzlich hörte er ein metallenes Knarzen. Erschrocken schnellte er hoch, denn trotz seines reifen Alters war er ein furchtsamer Mann. Ein Unbekannter hatte sich daran gemacht, in die Kranichfutterhütte, die Hütte seines Kollegen also, einzubrechen, dachte der Schwanenfütterer. Die Kranichfutterhütte stand nur wenige Meter von der Schwanenfutterhütte entfernt. Der Schwanenfütterer fütterte die Schwäne seit dreißig Jahren, wohingegen der Kranichfütterer die Kraniche bereits seit einunddreißig Jahren fütterte. Aus diesem Grund betrachtete der Schwanenfütterer den Kranichfütterer als den Erfahreneren und Würdigeren, auch wenn dieser ein Jahr jünger war als er. Endlich erkannte der Schwanenfütterer seinen Kollegen.

"Du kannst also auch nicht schlafen?", fragte der Schwanenfütterer. "Ja", antwortete der Kranichfütterer. Die beiden gaben sich die Hand. "Ich habe gehört, kann es aber noch nicht bestätigen, dass man sich in der Behörde darüber austausche, die Profession des Kranichfütterers zu streichen. Man denke daran, heißt es, einen Kranichfutterautomaten aufzustellen, genau an jener Stelle, wo jetzt noch die Kranichfutterhütte steht. Aber was soll ich denn machen, wenn den Leuten erlaubt wird, was ihnen bisher strengstens verboten gewesen ist, nämlich das Kranichfüttern?" Der Schwanenfütterer wurde nachdenklich; sein Blick verlor sich auf dem See und den Schwänen, die herbeigeschwommen kamen, um ihm aus der Hand zu fressen. Nur ihn bissen sie nicht. Während er nicht einschlafen konnte, weil er mit seiner Arbeit unzufrieden gewesen war, dachte der Schwanenfütterer, hatte der Kranichfütterer nicht einschlafen können, weil er fürchtete, seine, ihm ebenfalls längst zur Last fallende Arbeit zu verlieren. Freilich verschwieg der Kranichfütterer dem Schwanenfütterer, dass er gehört hatte, dass auch die Schwanenfutterhütte in naher Zukunft einem Schwanenfutterautomaten  weichen könnte, denn er wollte ihn schonen, den ohnehin furchtsamen Mann nicht auch noch mit einer Ungewissheit bedrücken, die ihn später, spätestens dann, wenn sie sich in eine Gewissheit verwandelt hätte, weit weniger schrecken musste.


Donnerstag, 7. Juni 2012

Weiterziehen

Du fühlst, dass du weiterziehen musst. Der frische junge Wind umspielt deine Haut, als gedächte er, dich zu verführen. Wozu? Zu dir selbst. Denn du spürst wohl, wie sehr ihr einander verwandt seid. Du wirst dich nirgendwo niederlassen, solange dich das Gefühl quält, etwas zurückzuhalten, nicht alles gesehen, nicht alles durchlebt und durchlitten zu haben. Wie der Wind wirst du alle Dinge verraten müssen; nichts liegt dir so süß auf der Zunge wie der Widerspruch. Liebgewordene und liebgewohnte Wahrheiten, so vollendet und in sich abgerundet sie heute auch dastehen mögen, werden sich wieder verflüssigen, um neuen Kristallisationen Platz zu machen. 

Aus der Erkenntnis, dass sich alles wandelt, auch deine Überzeugungen und die an jene geknüpften Leiden, solltest du Mut schöpfen. Doch auch dieser Erkenntnis und diesem Mut wirst du eines Tages spotten, wenn du es nicht jetzt schon tust. Nichts steht fest, nicht einmal der Satz, dass nichts feststehe.