Sonntag, 27. Mai 2012

Der neue Bund mit dem Leben

Ich werde den Bund mit dem Leben wieder schließen. Aber erwarte nicht zu viel. Ich werde noch reden, manchmal, wenn man mich fragt. Wenn ich einmal nicht schweigen sollte, was ich entschieden vorziehe, werde ich nur Banalitäten von mir geben, welche die gespannte Erwartung enttäuschen müssen. Ich habe durchaus nötig, für etwas beschränkt gehalten zu werden. Um so unabhängiger, nämlich nur den eigenen Gesetzen und Maulwurfsgelüsten folgend, kann ich mich in jene Tiefen hineinwühlen, die von keinem Licht und keiner Güte mehr erhellt werden.

Ich werde noch eine Ethik haben, eine minimalistische Ethik. Auf Grundsätze werde ich verzichten, weil es keinen Sinn macht, vom je individuellen Fall zu abstrahieren. Ich habe den allgemeinen Menschen abgeschafft und mit ihm die Engel und den ganzen Himmel. Nur das Leiden konnte ich nicht abschaffen. Meine Würde besteht einzig darin, dass ich mich zu meiner Verletzlichkeit bekenne und sie mir nicht verhehle: sie ist der Grund, von dem meine minimalistische Ethik ausgeht. Nicht um das Glück handelt es sich in dieser Ethik, sondern bloß darum, die Möglichkeit, die Frage nach dem Glück ohne Zynismus stellen zu können, klarzulegen. Ich wende mich gegen die Grausamkeit und damit auch gegen die Dummheit, denn Dummheit, besonders wenn sie herrscht, beschämt den wachen Menschen.

Meine Fehler werden Fehler der Begrenzung, nicht der Universalität sein. Ich frage mich nicht mehr, was zu tun sei, sondern bloß noch, worauf ich verzichten könne. Ich sitze in meinem Winkel und experimentiere mit verschiedenen Lebensweisen wie ein Schachspieler mit den Eröffnungsvarianten. Wie weit kann ich gehen? Wann führt mich mein Streben, dem Leiden zu entgehen, in eine neue, vielleicht noch drückendere Unerträglichkeit? Ist das Streben nach Leidlosigkeit nicht immer noch ein Streben und gebiert es damit nicht unweigerlich neue Schmerzen? Wie der Schachspieler bin auch ich immer wieder ein Anfänger, ein Anfänger des Lebens, eines Lebens nämlich, mit dem ich den Bund wieder schließen werde.

Mittwoch, 23. Mai 2012

An jenem unbekannt fernen Tage

Wir werden uns wiedersehen und mit einer anderen, einer reiferen und freieren Liebe lieben. An jenem unbekannt fernen Tage werden wir uns nicht an der Frage erhitzen, ob die Welt ein Jammertal oder ein Ort sei, den es in ein Paradies zu verwandeln gelte. Dergleichen geht nur die Halbstarken an. Die ganze schöne Literatur, die unsere Phantasie heute konvulsieren macht und mit Surrogaten des Lebens überschwemmt, wird hinter uns liegen wie eine abgestreifte Haut. Sicherlich wird man uns noch mit diesem oder jenem Buch antreffen können. Dass man uns jedoch dabei ertappen wird, wie wir unsere kleine Lüsternheit nach Identifikation zwischen den Zeilen zu stillen hoffen, nein, dieser Unaufrichtigkeit wird man uns gewiss nicht zeihen dürfen. Nicht das leuchtende Vorbild, sondern der Spiegel wird es sein, wonach wir unsere Hand ausstrecken werden, wenn wir ein Buch aufschlagen, einst, an jenem unbekannt fernen Tage. Wer die Menschen verstehen will, sollte sich nicht mit ihnen verwechseln. Die letzte und schwierigste Kunst besteht freilich darin, sich nicht mit sich selbst zu verwechseln. Du siehst: Die Rhetorik ist unserer Erkenntnis immer um ein paar Flügelschläge voraus.

Donnerstag, 10. Mai 2012

Selbstaneignung

Man muss sich selbst ein Rätsel (und damit interessant) zu bleiben wissen. Der Verzweifelte hat jede Ehrfurcht vor sich verloren: er weiß, wer er ist. Irgendetwas muss man sich zurückbehalten, aufsparen und vor seinen eigenen neugierigen Blicken verbergen, etwas, das sich nicht der Sonne der Raison aussetzen muss und gerade deshalb bestens gedeiht. Es ist nicht möglich, sich selbst zu erkennen, sich also ganz in das Objekt seines eigenen Denkens zu verwandeln: die Taschenlampe kann sich nicht selbst ausleuchten, soweit ihr Licht das Dunkel auch durchstoßen mag.

"Als du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich dein Herz da? Nach deinem Herrn!", schreibt Max Stirner. Wer nach Wahrheit strebt, sucht sich durch etwas anderes zu gewinnen. Das Selbstbewusstsein des Wahrheitssuchenden wäre in jedem Fall ein vermitteltes, ihm äußerliches. Er wird stöhnen wie Faust in seinem Studierzimmer, denn er fühlt, dass er mit all seinen Erkenntnissen nicht gemeint ist. Die Wahrheit ist nicht treu; sofern sie zu beglücken vermag, beglückt sie jeden, der ihr auf ihren geheimnisvollen Wegen nachspürt. Daher sollte wir uns nicht fragen, ob es wahr oder falsch ist, was wir denken, sondern ob es tatsächlich unser Denken ist. Denken ist vor allem eines: Selbstaneignung. Viele Widersprüche des Kopfes beruhen darauf, dass das Leben widersprüchlich ist; und deshalb wäre es unredlich, das Nirvana eines allberuhigenden Konsenses anzustreben. So sitze ich hier in gelassener Erwartung der Stürme, die ich gesät habe.

Dienstag, 1. Mai 2012

Noch einmal

Noch einmal große Kultur spielen, sich tagelang aufs Seminar vorbereiten, noch einmal mit Schiller den philosophischen Kopf gegen den Brotgelehrten ausspielen, Texte nicht bloß kopieren und hunderte wild durcheinander wirbelnder Seiten durcharbeiten, sondern sie zu genießen wissen, sich von seinem Dämon einflüstern lassen, an welchen Stellen es innezuhalten und zu verweilen gelte, sich noch einmal mit einem Autor des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts identifizieren, als wäre er ein Zeitgenosse, ihn lesen, erraten, lieben lernen, noch einmal erfahren, wie heilsam ein gutes Buch zu wirken vermag, noch einmal gegen den Unsinn aufbegehren, den Studenten gewohnheitsmäßig von sich geben und sie zur Rede stellen wie der Wächter eines Heiligtums, noch einmal sein unterernährtes Herz ganz dem deutschen Idealismus aufschließen und all jenen wahnwitzig großartigen Spekulationen nachspüren, ohne dabei zu fragen, ohne überhaupt fragen zu können, wozu eigentlich, sich noch einmal dabei ertappen, wie die Lektüre großer Meister den eigenen Stil beschwingt, beseligt und verflüssigt, sich noch einmal in den Gedanken verlieben, dass es möglich sei, seine Zukunft ganz auf den intimste Erschütterungen und Erleuchtungen seiner Seele fußen zu lassen, einmal nicht historisieren, psychologisieren, kritsieren, kontextualisieren, mit einem Wort: einmal den Dingen nichts von ihrer Würde tödlich entreißen, sondern sie - Oh mein Gott! - zu verstehen trachten, noch einmal sein Leben daran setzen, einen Satz Hölderlins zu verstehen, sich noch einmal bewusst machen, zu welch unerhörten Dingen die Samen in einem angelegt sind, zu was man eigentlich fähig wäre, wenn man nur endlich aufhörte, der eigenen Stimme, einer leicht heiseren, zart gebrochenen, keinesfalls aber gebrechlichen Stimme, davonzulaufen, sondern sich ein Ohr wachsen ließe für ihre Einflüsterungen, sich noch einmal dem Schlaf der Welt entreißen, noch einmal all die schalen Kompromisse von sich abstreifen wie ein Schlangentier seine alte Haut, um sich verjüngt und gereinigt wiederzugewinnen, noch einmal zum Lyriker, zum Dramatiker und schwärmerischen Naturforscher werden, der im Gras unter Bäumen liegt, um den Himmel zu studieren, die Wolken, den Wind zu spüren, sich ganz eins mit einer Erde fühlend, die letztlich doch zu mächtig ist, als dass der Mensch sie jemals zerstören könnte, noch einmal ein paar feurig-trotzige Zeile niederschreiben, die beweisen, dass man mit dieser Welt noch nicht fertig ist - um schließlich Seite 137 bis 149 so zu transkriptieren und auszudrucken (mit Deckblatt, versteht sich), wie es der Seminarleiter, ein wahrer Detailsadist, für 4CP nun einmal verlangt.