Dienstag, 22. Januar 2013

Altdamenterror

Der soziophobe Student krümmte sich vor Hunger in seinem Bett. Es half alles nichts; er musste all seinen Mut zusammennehmen, um einkaufen zu gehen. Damit ihn niemand in die Augen sehen konnte - jede Gefühlsansteckung gedachte er zur vermeiden -, trug er eine Sonnenbrille, obwohl der Wintermorgen in seltener Schönheit erglänzte. Endlich hatte er seine Stiefel geschnürt. Er atmete tief durch, öffnete die Tür und trat - zum ersten Mal seit fast einer Woche - aus seiner Wohnung. Als er die Treppen hinunterstieg, zuckte er plötzlich zusammen. Er hatte gehört, wie sich ein paar ältere Damen vor der Haustier unterhielten. Seine beständige, schon lange jeder äußeren Ursache ermangelnde Ängstlichkeit hatte dem Student ein überaus feines Gehör angezüchtet, das nun Alarm schlug. Diese Frauen blockierten den Eingang. Um aus dem Haus zu kommen, dachte der Student, müsse er sie freundlich fragen, ob sie ihn durchlassen könnten. Dem Studenten spritzte der Schweiß nur so aus den Poren und sein Herz begann zu hämmern, als er sich dieses Höllenszenario imaginierte. Er flüchtete zurück in seine Wohnung, um sich zu beruhigen. Vorsichtig hob er die Gardine hoch, um einen Blick auf die Damen zu werfen. Er erkannte Erika, auch Oma Edel genannt, mit der er sich sogar schon einmal unterhalten hatte. Oma Edel hatte sich wirklich mit ihm unterhalten, während der Student immer nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Weil Oma Edel offenbar nicht bemerkt hatte, dass der Student, anstatt sich wirklich mit ihr zu unterhalten, nur versucht hatte, sich mit ihr zu unterhalten, sympathisierte er mit ihr. Mehr jedenfalls als mit den anderen beiden Damen der Runde. Mit ihnen hatte der Student immer nur Grußworte gewechselt. Er glaubte, dass sie spürten, dass mit ihm etwas nicht stimmen könne. Dieser Glaube vergrößerte seine Angst um ein Vielfaches. Wenn Oma Edel allein vor der Tür gestanden hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, endlich den Wohnblock zu verlassen und einkaufen zu gehen. So aber sah er sich außerstande, vor die Tür seiner Wohnung, geschweige denn vor die Tür des ganzen Wohnblocks zu treten.

Die Damen plauderten gesellig vor sich hin, während der Student im Sessel saß und betete, dass sie endlich aufhören mögen. Immerhin standen die Feiertage vor der Tür und die nächste Tankstelle lag zu weit entfernt, als dass er sie ohne ein Nervendrama hätte erreichen können. Aber irgendetwas musste er doch beißen, wollte er nicht eingehen. Verzweifelt sah er sich in seiner Wohnung um. Aus den Zimmerpflanzen könnte er Tee kochen, dachte er. Doch wovon sollte er sich ernähren?

Nach drei Stunden ging er noch einmal an das Fenster, getrieben von der Hoffnung, der Spuk möge vorbeigegangen sein. Doch zu seinem Entsetzen hatte es sich vermehrt: Jetzt standen vier statt drei ältere Damen gesellig plaudernd vor der Tür des Wohnblocks. Ilse, die unvermeintliche Frau des Hausmeisters, hatte sich auch noch eingefunden, um ihren Wortsaft zu entladen. Ihre ungezähmte und wohl auch unzähmbare Altdamengeschwätzigkeit war im ganzen Block und selbst im Nachbarblock berüchtigt. Wenn sie die Tür blockiert, dachte der Student, werde ich hier niemals herauskommen. Natürlich war auch Ilse eine im Grunde gutherzige Frau, die dem Studenten niemals etwas Böses angetan hätte. Der Gedanke jedoch, dieser Frau in die Augen sehen und sie grüßen zu müssen, überwältigte ihn. Das konnte er nicht. Ihr lebensfrohes Auftreten allein schon hätte genügt, um ihn bis auf den nackten Knochen zu verängstigen. Keinen Menschen fürchtete der Student mehr als Ilse. Doch worüber sprach diese gefürchtetste aller älteren Damen?

"Wir kippen unsere überschüssigen Nahrungsmittel weg und in Afrika verhungern die Kinder. Das ist furchtbar, furchtbar, sag ich dir", sagte sie zu Oma Edel, die ihr heftig nickend zustimmte. Der Student trat mit schwächlich schwankendem Schritt auf seinen Balkon. "Furchtbar, allerdings", säuselte er in einem Anflug von Zynismus, der sich ebenso schnell wieder verflüchtigte wie er gekommen war, und stürzte sich aus dem dritten Stock in die Freiheit. 

1 Kommentar:

  1. Genial!!!!! ...und erschreckend, dass mir ähnliche situationen irgendwie geläufig sind :/

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