Donnerstag, 31. Januar 2013

Wir gehen schon mal

Er sitzt am Tisch und redet über Gott und die Welt. Darunter macht er's nicht. Es gibt eine Form des Redens, die verletzt, weil sie ein Schweigen über so viele andere Dinge beinhaltet, könnte ein auktorialer Erzähler an dieser Stelle Brecht zärtlich plagiierend einwerfen. Seine Frau ist gereizt, leidet, will weg. Sie würde ihm am liebsten sagen, dass sie sich unwohl fühle, mit ihm ausgerechnet über Politik zu reden. Doch dann schaut sie ihm in die Augen und erahnt das Feuer, das ihn antreibt, mit einer solchen Dringlichkeit über Schuldenprobleme zu reden. Sie sendet einige Zeichen ihres Unwohlseins, denn es tut ihr weh, ihm zu widersprechen. Denn sie müsste ihm sehr oft widersprechen, so oft, dass ihre Beziehung darunter leiden und sehr bald zerbrechen müsste. So schweigt sie weiter und er redet weiter. So schweigt sie an ihm vorbei, während er an ihr vorbeiredet. Die 8-jährige Tochter sitzt daneben und versucht den Ausführungen des Vaters zu folgen. Sie versteht nichts; und sie fragt auch nicht nach, ob er es ihr verständlicher erklären könne, denn sie weiß, dass er es nicht kann, und dass auch sie sein Reden nicht zu bändigen vermag. Gerne würde sie sich mit ihrer Mutter unterhalten - die beiden verstehen einander sehr gut -, aber dann fühlte sich der Vater allein gelassen. Allein mit seinem Reden, mit seinen Themen, die vielleicht sonst niemand mit einer solchen Kleinteiligkeit durchdrungen hat. Er arbeitet bei einer Bank, kennt alle Zusammenhänge, weiß, wie der Hase läuft. Aber er sieht nicht, dass es seiner Frau schlecht geht, er hat überhaupt kein Organ für die vielen feinen Signale ihres Unwohlseins, ja er fasst ihr angesträngtes Lächeln sogar als Zustimmung, als Aufmunterung auf, noch intensiver über Finanzbuchhaltung zu reden.

Endlich kommt ein Kollege vorbei, mit dem der Mann auf Augenhöhe reden kann. Seine Frau atmet durch, sie muss kein Interesse mehr heucheln. Zwar versucht sie noch, sich halbwegs an der Diskussion zu beteiligen, doch ihr Widerwille ist stärker. Sie weiß nicht, wie sie anders als mit störenden Zwischenrufen in jenes ebenso lebhafte wie belanglose Gespräch eingreifen sollte. Immer tiefer versinkt sie in ihrem eigenen Schweigen, bis es sie ganz zu verschlingen droht. Sie streichelt ihrer Tochter durchs Haar, so als wäre darin irgendein Halt zu finden. Vergeblich sucht sie das Lächeln im Gesicht ihrer Tochter zu erwecken. Sie fühlt schmerzhaft, wie sehr ihr Wohlbefinden davon abhängt, dass ihre Tochter sie anlächelt. Doch die schaut sie ebenfalls mit suchenden Augen an. Sie scheinen zu sagen, dass die Mutter dieses väterliche Trauerspiel endlich beenden solle, um den Abend noch in ein gutes Ende überzuleiten. Mit einem Schlag wird der Mutter bewusst, dass sie ihre Tochter so angesehen hat, wie eine Tochter ihre Mutter ansieht. Erschrocken über sich selbst steht sie auf, um sich von ihrem Mann und dessen Kollegen zu verabschieden. "Wir gehen schon mal."

2 Kommentare:

  1. Es rührt mich an. Mehr als ich geahnt hätte.

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  2. Manches Mal sind wir Menschen so auf unsere eigenen Gedanken und Ausführungen fokussiert, dass wir darüber die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen vergessen, und selbst deren eigentlich überdeutliche Botschaften nicht wahrnehmen. Unsere eigene Wichtigkeit schirmt uns von der Realität ab, obwohl wir uns völlig im rationalen Raum bewegen. Gerade dieses NUR Rationale bewirkt wohl, dass wir Glück verhindern. Eigenes und das von Anderen.

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