Philosophie hat nichts mit Kalendersprüchen oder der kontemplativen Stille der Klösterzu tun, ja nicht einmal mit Weisheit. Philosophie ist die Streckbank der Seele. Sie versöhnt die Widersprüche nicht, sondern verschärft sie bis ins Unerträgliche. Sie ist keine Meditation, kein Gebet, keine Planerfüllung, keine Sammlung geistreicher Bonmonts. Damit ein Mensch erkenne, was das Übel sei, muss er sich dem Übel mit ganzer Seele hingeben, morden, brandschatzen, vergewaltigen. So paradox es klingen mag: Es ist sogar seine Pflicht. Es gibt nichts, dem er sich verschließen, dem er sich nicht aussetzen dürfte. Um alles verstehen zu können, muss er alles sein. Er geht nicht nur dorthin, wo es brennt; er stürzt sich ins Feuer. Nur dann, wenn aus jedem seiner Worte eine Überwindung, ein Sieg spricht, hat er überhaupt das Recht, sich zu äußern.
Sonntag, 30. September 2012
Sonntag, 23. September 2012
Dieses Stöhnen
Ich dachte, dass sie sich erholt hätte und die von ihr bekundete Zufriedenheit echt wäre. Vielleicht war sie dies auch. Ich weiß nicht. Der Kleine hat schon seit drei Tagen nicht einschlaffen können, so groß ist seine Vorfreude auf den Wochenendausflug. Diese Lebenslust, das geht mir gerade durch den Kopf, wie ich hier im Bett liege und nachdenke, stärkt er sich immer nur bei mir; immer ist es unser Gelächter, das sich bis zur niveaubereinigten Albernheit hochschaukelt. Wie konnte ich das so lange übersehen? Wollte ich es nicht wahrhaben? Er sagt immer wieder, dass er seine Mutter liebe, aber wirklich Spaß hat er nur, wenn er mit mir zusammen ist. Immer sitzt sie auf der Bank, während wir spielen; sie liest ein Buch, schaut ab und zu zu uns herüber und lächelt. Aber was ist das für ein Lächeln?
Vielleicht schmerzt es sie sogar, unser Spiel mit ansehen zu müssen, scheint sie doch selbst immer mehr den Lebensmut zu verlieren. Zwar kämpft sie, bäumt sich auf, doch ohne jede Zuversicht, dass sie ihre Stimmungen jemals in den Griff bekommen könnte. Immer wird der Kleine still und nachdenklich, wenn er mit ihr in Berührung kommt, manchmal sieht es sogar so aus, als fürchte er sie. Lange sah ich das nicht und redete mir ein, dass diese Mutter-Kind-Beziehung nun einmal kompliziert sei. Aber das war sie nicht immer; sie ist es erst geworden.
Sie weiß gar nicht, wie sehr mich ihr Stöhnen trifft. Sicher ist sie sich dessen nicht bewusst, aber gerade dann, wenn ich denke, dass sich die Dingen zwischen uns zu bessern beginnen, entschlüpft ihr dieses Stöhnen, das mir augenblicklich jeden Mut aussaugt. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie die Zeichen ihrer großen Müdigkeit nicht zurückzuhalten vermag. Aber jeder Streit, ganz gleich, wie verletzend und hinterfotzig er sich auswachsen würde, wäre mir unendlich lieber, als dieses Stöhnen. Wo Streit ist, da ist noch Leben, da behauptet man sich und seine Überzeugungen versucht mit allen Mitteln, sie durchzusetzen. Sie streitet schon lange nicht mehr mit mir. Und auch mein Wille, sie zu necken und zu ärgern, ist wie weggeflogen. Ich habe nur noch Angst, ihr weh zu tun, und fürchte ihr Stöhnen über alles. Es hört sich wie ein Ausatmen an, ein letztes Ausatmen, dem kein Luftzug mehr nachfolgen wird, als ob sie ihre Seele aushauchte. Dass sich in diesem Stöhnen eine tiefschwarze Lebensphilosophie ausdrücke, ist so ein Satz, denn ich vor ein paar Wochen vielleicht noch dahergesagt hätte. Heute könnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Und ich kann mich nicht mehr ernst nehmen, wenn ich romantisiere, wo illusionslose Klarsicht Pflicht wäre.
Es sei ihr einziger Wunsch, dass wir glücklich seien - womit sie den Kleinen und mich meint -, sagt sie immer wieder, so als ob sie gar nichts zählen würde. Ich gebe ihr darauf nicht mehr zur Antwort, dass ich ihre Selbstlosigkeit schätzte, sondern fahre sie an. Um sie wachzurütteln und sie endlich aus ihrer gottverdammten Lethargie herauszureißen. Sie wird es aushalten, weil sie es ist, Gradiva, die Atmende und Vorwärtsschreitende. Sie muss es aushalten.
Der Mensch, der auf das Glück verzichtet, verfügt über die gespenstische Freiheit, alles zu denken und zu tun; er ist der geborene Relativist und Amoralist. Ich will kein solcher Mensch sein. Nicht mehr. Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt, und zwar unbedingt und ohne Abstriche. Unser Glück darf zu keiner schalen Erinnerung verkommen! Der Mensch muss es sich wert sein, nach dem Glück zu streben, das allein macht seine Würde aus - nur daraus entspringt sein Ernst und alle Weisheit, die diesen Namen verdiente.
Vielleicht schmerzt es sie sogar, unser Spiel mit ansehen zu müssen, scheint sie doch selbst immer mehr den Lebensmut zu verlieren. Zwar kämpft sie, bäumt sich auf, doch ohne jede Zuversicht, dass sie ihre Stimmungen jemals in den Griff bekommen könnte. Immer wird der Kleine still und nachdenklich, wenn er mit ihr in Berührung kommt, manchmal sieht es sogar so aus, als fürchte er sie. Lange sah ich das nicht und redete mir ein, dass diese Mutter-Kind-Beziehung nun einmal kompliziert sei. Aber das war sie nicht immer; sie ist es erst geworden.
Sie weiß gar nicht, wie sehr mich ihr Stöhnen trifft. Sicher ist sie sich dessen nicht bewusst, aber gerade dann, wenn ich denke, dass sich die Dingen zwischen uns zu bessern beginnen, entschlüpft ihr dieses Stöhnen, das mir augenblicklich jeden Mut aussaugt. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie die Zeichen ihrer großen Müdigkeit nicht zurückzuhalten vermag. Aber jeder Streit, ganz gleich, wie verletzend und hinterfotzig er sich auswachsen würde, wäre mir unendlich lieber, als dieses Stöhnen. Wo Streit ist, da ist noch Leben, da behauptet man sich und seine Überzeugungen versucht mit allen Mitteln, sie durchzusetzen. Sie streitet schon lange nicht mehr mit mir. Und auch mein Wille, sie zu necken und zu ärgern, ist wie weggeflogen. Ich habe nur noch Angst, ihr weh zu tun, und fürchte ihr Stöhnen über alles. Es hört sich wie ein Ausatmen an, ein letztes Ausatmen, dem kein Luftzug mehr nachfolgen wird, als ob sie ihre Seele aushauchte. Dass sich in diesem Stöhnen eine tiefschwarze Lebensphilosophie ausdrücke, ist so ein Satz, denn ich vor ein paar Wochen vielleicht noch dahergesagt hätte. Heute könnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Und ich kann mich nicht mehr ernst nehmen, wenn ich romantisiere, wo illusionslose Klarsicht Pflicht wäre.
Es sei ihr einziger Wunsch, dass wir glücklich seien - womit sie den Kleinen und mich meint -, sagt sie immer wieder, so als ob sie gar nichts zählen würde. Ich gebe ihr darauf nicht mehr zur Antwort, dass ich ihre Selbstlosigkeit schätzte, sondern fahre sie an. Um sie wachzurütteln und sie endlich aus ihrer gottverdammten Lethargie herauszureißen. Sie wird es aushalten, weil sie es ist, Gradiva, die Atmende und Vorwärtsschreitende. Sie muss es aushalten.
Der Mensch, der auf das Glück verzichtet, verfügt über die gespenstische Freiheit, alles zu denken und zu tun; er ist der geborene Relativist und Amoralist. Ich will kein solcher Mensch sein. Nicht mehr. Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt, und zwar unbedingt und ohne Abstriche. Unser Glück darf zu keiner schalen Erinnerung verkommen! Der Mensch muss es sich wert sein, nach dem Glück zu streben, das allein macht seine Würde aus - nur daraus entspringt sein Ernst und alle Weisheit, die diesen Namen verdiente.
Mittwoch, 12. September 2012
Den Ankotzpunkt finden
Woran erkennt man einen kritisch denkenden Menschen? Ganz klar: daran,
dass er ziemlich vieles ziemlich scheiße findet. Scheißefinden allein
genügt natürlich noch nicht. Es kommt immer auch darauf an, wie jemand
etwas scheiße findet. Sagt jemand beispielsweise, dass ihn dieser ganze Kram nur noch ankotze, so ist noch nicht davon auszugehen, dass sein Scheißefinden ein kritisches
Niveau erreicht hat. Man denke an einen Schüler, der
voller Wut seinen Ranzen in die Ecke feuert. Er findet die Schule
scheiße, sagt er selbst. Jedoch nicht darum, weil er mit der
Schulpolitik seines Bundeslandes oder mit der Zusammenstellung des
Lehrplans nicht einverstanden wäre, sondern weil seine Lehrerin, Frau
Bitterlich, seine Vorliebe für chauvinistische Witze leider nicht teilt.
Vermutlich, weil sie kritisch denkt und deshalb chauvinistische Witze,
wie so vieles, ziemlich scheiße findet.
Der kritisch denkende Mensch begnügt sich nicht damit, seinen Ranzen in die Ecke zu
feuern. Er weiß, warum er etwas scheiße findet. Er kennt die Zusammenhänge, die weit über den falschen Humor einer Frau Bitterlich hinausreichen. Mit zärtlichem Finger
hat er sein Seelenfleisch nach dem Ankotzpunkt abgesucht, tastend, mit aller ihm möglichen Vorsicht, bis er ihn
endlich gefunden hat. Die meisten finden ihren Ankotzpunkt in den gesellschaftlichen Strukturen, die Missstände und Ungerechtigkeiten
produzieren. Das gilt insbesondere für die Lefties. Da es ihnen so gut wie unmöglich ist, die Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu verändern, ist ihr Scheißefinden das vielleicht beständigste überhaupt. Sie
haben die besten Gründe, nicht zu lächeln.
Freitag, 7. September 2012
Religionskritik (Essay)
Für S.
Um die Religion zu kritisieren, genügt es nicht, darauf hinzuweisen,
dass in der Welt keine Zeichen eines göttlichen Wirkens zu finden seien.
Wenn es Gott gäbe, wie es etwa einen Menschen geben kann, gäbe es
vermutlich keine Religionen. Dass Gott nicht existiert, ist die
Bedingung des Glaubens an Gott. Dies gilt jedoch nicht für das, was man
klassisch Seele genannt hat. Für sie bestehen Dinge, die ihren Ursprung in der
Erfahrung haben, ruhig neben anderen, die aus metaphysischen Träumen
geboren sind. Wenn Religionskritik etwas bewirken soll, darf sie sich
nicht darauf beschränken, auf die inneren Widersprüche der heiligen
Schrift aufmerksam zu machen oder die Heiligkeit angeblicher Wunder zu
enttarnen. Ob Jesus Blinde sehen gemacht hat oder nicht, ist ein Detail,
an dem der Glaube des Gläubigen nicht hängt. Man könnte hier fragen,
was wirklicher sei, die Dinge in ihrer nackten Faktizität oder die
Gedanken und Empfindungen, die der Betrachter in sie hineindichtet? Die
Orientierung an empirischen Fakten, von der die modernen Naturwissenschaften
leben, ist nur eine, vergleichsweise junge Weise der Weltdeutung. Die
Frage, welcher dieser beiden Wirklichkeiten man den Vorzug gibt, der
inneren oder der äußeren, ist alles andere als entschieden. Ist die
Hostie der Leib Christi oder nichts weiter als ein ungesäuertes Brot?
Die Naturwissenschaften werden niemals zu dem Ergebnis kommen können, dass die
Hostie der Leib Christi sei; sie sind für diese Fragen überhaupt nicht
zuständig. Dies ist wohl auch der Grund, warum Diskussionen über
Religion regelmäßig zu nichts als einer Vertiefung des Grabens zwischen
den streitenden Parteien führen.
Der psychologisierende Ansatz scheint mir ebenso verfehlt. Denn wer den Glauben als ungesundes, vielleicht sogar krankhaftes Verhalten wertet,
muss sich dazu eines Maßstabes bedienen, der zu subjektiv und den
historischen Veränderungen zu stark unterworfen ist, als dass er einen
Gläubigen, der offenbarte und in Stein gemeißelte Wahrheiten auf seiner
Seite hat, beeindrucken könnte. Den Satz Dostojewskis, dass ohne Gott
alles erlaubt sei, deute ich wie folgt. Gott ist die Macht, die allen
gleichermaßen zustößt. Deshalb können nur vor Gott alle Menschen gleich
sein. Er ist jene Instanz, die unbestechlich über allen Dingen thront.
So sieht es zumindest in der Theorie aus. In Wahrheit fanden sich immer
Menschen und Gruppen, die sich Gott näher wähnten und deshalb mit gutem
Gewissen Leid über andere brachten. So auch heute.
Wenn der göttliche Maßstab verschwindet, um auf Dostojewski
zurückzukommen, verlieren die Konflikte ihren Heiligenschein: Es bleiben
nur die konkreten Interessen konkreter Menschen übrig, die miteinander
im Kampf liegen. Zwar gibt es nach wie vor überindividuelle Instanzen,
zum Beispiel Traditionen, Gesellschaft oder Gesetze. Aber auch in diesen
drücken sich nur gewisse Interessen aus. So wie man in der Natur nach
Ursachen fragt, so ist man heute gewohnt, nach den Motiven hinter den
menschlichen Werken zu fragen. Mit einem Wort: Nichts ist mehr heilig.
Das gilt auch für die Kategorie der psychischen Gesundheit. Was noch vor
wenigen Jahren als perverse Praktik gegolten hätte, dient heute als Stoff
für Bestseller. Sobald sich das schlechte Gewissen aufzulösen beginnt,
etwas Krankhaftes zu tun, hört auch die Krankheit auf, zu sein. Sofern
sie eine bloß konstruierte, mithin ein Kind des bösen Blicks gewesen
ist.
Deshalb sollte die Religionskritik als Moralkritik ansetzen. Denn ohne
eine Moral wäre die Religion bloß ein phantasievoll ausgestaltetes
Konglomerat überlieferter Erzählungen für Leute, denen die Realität
nicht interessant genug ist. Aber das ist sie nicht; in ihrem Namen ist
gefordert, gefoltert und vernichtet worden. Die beste Möglichkeit,
Religion zu kritisieren, besteht für mich darin, die Gläubigen auf die
moralischen Widersprüche aufmerksam zu machen, in die sie sich verstricken.
Ich präferiere also die gute alte immanente Kritik. Insbesondere gegen
das Christentum als Religion der Liebe lässt sich so viel ausrichten.
Leider auch hier nur der Theorie nach. Denn es ist überhaupt kein
Problem, mit der Bibel gegen die Nächstenliebe oder für den Krieg zu
argumentieren, wenn man sich mit dem Text einigermaßen auskennt. Aber dass
über diese Dinge diskutiert wird, ist an sich bereits ein Schlag gegen
den Fanatismus. Machtlos ist die Kritik nur, wo ihre Gegner sich von
vornherein in Schweigen hüllen und das Gespräch mit den Ungläubigen
kategorisch ablehnen.
Dienstag, 4. September 2012
Über Hegel (Essay)
Damit man etwas ablehnen kann, muss man es zuallererst verstanden haben. In Bezug auf die Philosophie Hegels ist die Ablehnung groß, doch welcher seiner Kritiker könnte schon von sich sagen, ihn wirklich verstanden zu haben? Ist die Ablehnung Hegels nicht allzu oft eine Abwehrmaßnahme, zu deuten als Zeichen einer Überforderung, deren Gründe der Kritiker nicht bei sich sucht, sondern Hegel zuschiebt? Schopenhauers Ausfälle gegen Hegel sind ebenso bekannt wie substanzlos. Es mag beizeiten ein angenehmes Gefühl sein, selbst einen anerkannt großen Geist an Hegel scheitern zu sehen. Über die philosophische Bedeutsamkeit ist damit freilich noch nichts ausgesagt.
Was ist nun dran am Hegel? Auch ich kann von mir nicht sagen, ihn
verstanden zu haben, aber wer könnte das schon? Überhaupt ist der
Begriff des Verstehens ein schwieriger. Niemand verfügt über einen
privilegierten Zugang zu des Meisters Gedanken, niemand weiß, was Hegel
genau gemeint hat. Da sind eben nur diese schwer zu lesenden Texte und
eine Fülle von Interpretationen, die einem die Lektüre vorstrukturieren,
ob man dies nun will oder nicht. Aber so geht es uns letztlich mit allen
Texten, egal wie sicher wir uns ihres Gehalts auch wähnen mögen. Wir
produzieren fortwährend Interpretationen, oft sogar bloß
Interpretationen von Interpretationen. So fragen wir uns, wie die Frage, ob der
Übermensch Nietzsches die Nazis inspiriert habe, in der Forschung diskutiert worden sei, interessieren uns also dafür, wie sich unsere Interpretation der nazistischen
Nietzsche-Interpretation zu früheren Interpretationen der nazistischen
Nietzsche-Interpretation verhält. Niemand sollte sich darüber wundern,
weshalb philosophische Bibliotheken so ausufern können, ohne dass damit
irgendein Fortschritt angezeigt sein müsste.
Am besten wird noch immer sein, zu den Texten selbst zurückzukehren. Um klar
zu sehen, dass auch diese Texte nicht um sich kreisen, sondern ihre Rechtfertigung außer sich haben. Sollte man zumindest meinen. In
Hegels Logik kreist das Denken um sich selbst. Das reine Sein sei
mit dem reinen Nichts identisch, kann man dort lesen. Aus Sein und
Nichts versucht Hegel das Werden abzuleiten. Den Satz vom
ausgeschlossenen Dritten, der seit der Antike in philosophischen Ehren stand, verwirft er. Wenn etwas ist oder nicht
ist, bleibt kein Platz für ein Werden, für einen Übergang zwischen jenen beiden Bestimmungen. Es sieht so aus, als würde Hegel mit
den Begriffen spielen. Dass am Ende das herauskommt, was er sich wünscht, wird niemanden überraschen.
Es ist leicht gesagt, dass man eine Philosophie aus dieser selbst heraus
verstehen müsse. In der Tat ist es zum Zwecke einer fairen
Beurteilung zwingend erforderlich, sich mit allem, was man hat, in das
kalte Wasser einer Philosophie vorzuwagen. Was aber, wenn man dabei den
Grund unter den Füßen verliert? Hegel ist das nicht, was man anschlussfähig nennt. Man kann sich von ihm keine interessanten Stücke herausschneiden und dem eigenen Denken beifügen. Hegel ist ein sehr
fordernder Denker, auf den man sich einlassen muss.
Viele Philosophen sind bis in ihre Sprache hinein von Hegel geprägt
worden, man denke nur an die Junghegelianer mit Feuerbach, Stirner, Marx
oder auch an Adorno. Es scheint, als ob das Denken dieser Männer selbst
umgestülpt worden wäre. Sie alle hegeln, man könnte auch sagen: Sie haben sich einer dialektischen Denkungsweise verschrieben. Nichteingeweihte
mögen ihre dialektischen Sprachformen abschrecken - oder gerade
wegen der Aura des Exklusiven anziehend finden.
Aber was hat es nun mit der Dialektik auf sich? Diese Frage kann ich -
wie zu erwarten ist - nicht in wenigen Sätzen beantworten, jedoch einige
Überlegungen hinstreuen. Ein Subjektphilosoph, sagen wir Kant,
subjektiviert die Erkenntnis; sie ist ihm nur als Erkenntnis eines
einzelnen erkennenden Menschen möglich. Das Ding an sich bleibt ihm unerkennbar. Diese transzendentale Konzeption lehnt Hegel ab; er sagt, dass das Ding an
sich ein leerer Begriff sei, weil er nichts begreife. Hegel will
vielmehr das gesamte Sein gedanklich erfassen, also Subjekt als auch
Objekt zusammendenken. Sein Erkenntnisoptimismus ist grenzenlos:
"Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken. Und mit diesem Glauben wird nichts so spröde und hart sein, das sich ihm nicht eröffnete. Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben." (aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)
Das rein geistige Zusammendenken, das
beständige Betrachten und Beziehen aller Momente aufeinander, zeichnet
den Idealismus Hegels aus. Er will in seiner Logik dem Denken
gewissermaßen dabei zusehen, wie es sich entwickelt und vorwärtsstrebt,
ohne sich subjektiv in diesen Prozess einzumischen. Subjektphilosophen
werden an dieser Stelle aufschreien. Aber es ist wirklich so: Hegel will
die Trennung zwischen Ich und Welt aufheben. Dabei geht es ihm nicht
nur darum, diese beiden Entitäten anders aufeinander zu beziehen, sie sollen
auch eine Bewegung durchmachen, in dem sie sich beide aufheben und
wiederum nicht aufheben, eben ihre idealistische Synthese im absoluten
Geist finden. Dieses beständige Durchdenken aller Momente macht es so
schwer, Hegel zu fassen zu bekommen. Über den orthodoxen Hegelianer Kojève, der Hegel bei den Intellektuellen Frankreichs populär machte, hieß es, er könne alles und von allem das Gegenteil beweisen.
Bei Kant gibt es eine phänomenale und eine noumenale Welt. Auch diese
Trennung akzeptiert Hegel nicht. Seine Philosophie, die sehr von
Spinozas Pantheismus beeinflusst ist, anerkennt Trennungen nur als Etappen eines Prozesses, der dem Absoluten zustrebt.
Die dialektische Methode beeindruckte die Junghegelianer um Marx, weil
sie es ihnen ermöglichte, Subjekt (Proletariat) und Objekt
(gesellschaftliches Sein) zusammenzudenken. Obwohl sich das allgemeine
Interesse für den Hegelianismus längst abgekühlt hatte - Hegels Antipode
Schopenhauer avancierte zum Modephilosophen des 19.
Jahrhunderts -, entwickelten sie Hegels Methode weiter (oder
vulgarisierten sie, ganz wie man will), auch wenn sie das Erbe ihres
Meisters in vielem der Ironie preisgaben. Wohin politischer Monismus führen kann, hat das 20. Jahrhundert dann gezeigt. Man kann sich
darüber streiten, ob der Totalitarismus in Hegels Philosophie angelegt
ist oder nicht. Er selbst jedenfalls begnügte sich damit, das
Bestehende, den preußischen Staat der Goethe-Zeit, zu feiern. So habe
ich es jedenfalls mehrfach gelesen; auch hier stehen Nachforschungen an.
Über die Philosophie sagt Hegel, dass sie ihre Zeit in Gedanken sei. Darum habe jede Zeit ihre eigene Philosophie.
"Es kann deswegen heutigentages keine Platoniker, Aristoteliker,
Stoiker, Epikureer mehr geben. Sie wiedererwecken hieße, den
gebildeteren, tiefer in sich gegangenen Geist auf eine frühere Stufe
zurückbringen wollen." (aus den Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie)
Auf Hegel angewandt könnte man fragen: Kann man heute noch ein
Hegelianer sein? Doch auch hier hat Hegel schon das Andere mitgedacht
und festgestellt, dass alle Philosophien in ihren Prinzipien fortleben.
Wenn wir uns fragen, ob uns Hegel noch etwas zu sagen habe, stellen wir
genau die Frage, die Hegel immer und immer wieder gestellt hat. In diesem
Sinne bleibt er ein eminent moderner Denker.
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