Freitag, 6. Juli 2012

Liebeserklärung an die Nacht

Ich bin ein Kind der Nacht. Wach zu sein, während andere schlafen - dieses romantische Bild lässt erahnen, wie ich mich fühle, immer gefühlt habe. Wenn ich mich aufmache, um mit dem Bus ziellos durch die Stadt zu fahren, bin ich ... glücklich. Ich schaue abwechselnd aus dem Fenster oder lese in Taschenbüchern. Um gut zu denken, brauche ich Bewegung und den Fensterplatz in der letzten Reihe. Die Menschen, denen ich nachts begegne, sind keine Getriebenen, keine Gehetzten, keine, denen man ansähe, dass sie etwas Dringendes zu erledigen hätten. Auch für sie ist die Nacht immer noch etwas Besonderes, trotz all den Jahren der Gewöhnung. In Gegenwart von Paaren, Gruppen oder marodierenden Banden vermag ich nichts auszurichten; wenn ich aber den einsamen Gestalten der Nacht begegne, fühle ich mich ganz unter meinesgleichen. Jedem schaue ich ins Gesicht und denke: Ach, du auch noch wach?" Tagsüber dächte ich nur: Ach, noch einer von der Sorte. Die Nacht kennt keine Massen; nachts ist es noch möglich, Menschen zu begegnen, ohne diese Begegnungen forcieren zu müssen. Kein Einander-einen-guten-Morgen-Wünschen, kein freundlicher Blick, kein Gespräch über das Wetter, nichts. Wenn die Leute sprechen, kommt meist nur Unsinn dabei heraus; daher liebe ich die Schweigsamkeit der Wachgebliebenen. Sie gibt ihnen die Würde zurück, die ihre Physiognomie suggeriert. Ein junges Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, schaut nachdenklich aus dem Fenster, sich mit der Hand ihr zartes Gesicht abstützend. Sie prüft ihre SMS, tippt etwas mit wirschem Blick und scheint leise über die Dummheit der Welt zu stöhnen. Dann schaut sie wieder aus dem Fenster. Ich bin glücklich. Erst recht, wenn dann noch der Regen laut gegen die Fensterscheiben prasselt und sich das gelbe Licht der Straßenlaternen in den Tropfen spiegelt. Es gibt nichts Schöneres, als in einer kalten, regnerischen Nacht ziellos durch die Stadt zu fahren und über die Möglichkeit menschlicher Beziehungen nachzudenken.

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