Sonntag, 10. Juni 2012

Der Schwanenfütterer

Der Schwanenfütterer konnte nicht einschlafen. Er nahm seinen Mantel, schnürte die Stiefel und ging hinaus, um unter dem Vollmond zu wandeln. Niemand begegnete ihm. Im Wohnblock am See sah er nur noch ein Licht brennen. Krueger, dachte er, das muss Krueger sein. Krueger war ein spielsüchtiger Student, den der Schwanenfütterer einmal am See getroffen hatte, als dieser, wie er selbst, nicht einschlafen konnte. Die beiden empfanden keinerlei Sympathie füreinander; was sie lose verband, war etwas anderes, eine Art Loyalität, die Loyalität jener, die einander in ihrer ganzen nackten Einsamkeit gesehen haben. Der Schwanenfütterer zögerte, zögerte bis zuletzt, Krueger zu besuchen, der vielleicht gerade beim Versuch, den ewigen Jackpot zu knacken, seinen letzten monetären Lebensnerv durchtrennte. Zwar stellte der Schwanenfütterer einen erfahrenen, vollausgeprägten Mann vor, an dessen freundlichem Gesicht man sich nicht sattsehen konnte. Und doch fühlte er sich dem Studenten unterlegen, uferlos, himmelhoch unterlegen, denn was hätte er, der Schwanenfütterer, schon von sich erzählen können? Dass er Schwäne fütterte? Krueger hatte damals nicht gelacht, als der Schwanenfütterer ihm seine Profession offenbarte. Er hatte schlicht geschwiegen und das Gespräch in eine anderer Richtung gelenkt, in welche, das wusste der Schwanenfütterer nicht mehr. Nur an Kruegers Schweigen erinnerte er sich, und zwar schmerzlich.

Der Schwanenfütterer kam zu der Hütte, in der er das Schwanenfutter aufbewahrte. Nur er hatte den Schlüssel zur Hütte, dachte er, nur er allein. Er legte sich ins Gras, schloss die Augen und öffnete seine kleinen Ohren dem Rauschen der Nacht. Lastkraftwagen, Bahnen. Plötzlich hörte er ein metallenes Knarzen. Erschrocken schnellte er hoch, denn trotz seines reifen Alters war er ein furchtsamer Mann. Ein Unbekannter hatte sich daran gemacht, in die Kranichfutterhütte, die Hütte seines Kollegen also, einzubrechen, dachte der Schwanenfütterer. Die Kranichfutterhütte stand nur wenige Meter von der Schwanenfutterhütte entfernt. Der Schwanenfütterer fütterte die Schwäne seit dreißig Jahren, wohingegen der Kranichfütterer die Kraniche bereits seit einunddreißig Jahren fütterte. Aus diesem Grund betrachtete der Schwanenfütterer den Kranichfütterer als den Erfahreneren und Würdigeren, auch wenn dieser ein Jahr jünger war als er. Endlich erkannte der Schwanenfütterer seinen Kollegen.

"Du kannst also auch nicht schlafen?", fragte der Schwanenfütterer. "Ja", antwortete der Kranichfütterer. Die beiden gaben sich die Hand. "Ich habe gehört, kann es aber noch nicht bestätigen, dass man sich in der Behörde darüber austausche, die Profession des Kranichfütterers zu streichen. Man denke daran, heißt es, einen Kranichfutterautomaten aufzustellen, genau an jener Stelle, wo jetzt noch die Kranichfutterhütte steht. Aber was soll ich denn machen, wenn den Leuten erlaubt wird, was ihnen bisher strengstens verboten gewesen ist, nämlich das Kranichfüttern?" Der Schwanenfütterer wurde nachdenklich; sein Blick verlor sich auf dem See und den Schwänen, die herbeigeschwommen kamen, um ihm aus der Hand zu fressen. Nur ihn bissen sie nicht. Während er nicht einschlafen konnte, weil er mit seiner Arbeit unzufrieden gewesen war, dachte der Schwanenfütterer, hatte der Kranichfütterer nicht einschlafen können, weil er fürchtete, seine, ihm ebenfalls längst zur Last fallende Arbeit zu verlieren. Freilich verschwieg der Kranichfütterer dem Schwanenfütterer, dass er gehört hatte, dass auch die Schwanenfutterhütte in naher Zukunft einem Schwanenfutterautomaten  weichen könnte, denn er wollte ihn schonen, den ohnehin furchtsamen Mann nicht auch noch mit einer Ungewissheit bedrücken, die ihn später, spätestens dann, wenn sie sich in eine Gewissheit verwandelt hätte, weit weniger schrecken musste.


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