Dienstag, 1. Mai 2012

Noch einmal

Noch einmal große Kultur spielen, sich tagelang aufs Seminar vorbereiten, noch einmal mit Schiller den philosophischen Kopf gegen den Brotgelehrten ausspielen, Texte nicht bloß kopieren und hunderte wild durcheinander wirbelnder Seiten durcharbeiten, sondern sie zu genießen wissen, sich von seinem Dämon einflüstern lassen, an welchen Stellen es innezuhalten und zu verweilen gelte, sich noch einmal mit einem Autor des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts identifizieren, als wäre er ein Zeitgenosse, ihn lesen, erraten, lieben lernen, noch einmal erfahren, wie heilsam ein gutes Buch zu wirken vermag, noch einmal gegen den Unsinn aufbegehren, den Studenten gewohnheitsmäßig von sich geben und sie zur Rede stellen wie der Wächter eines Heiligtums, noch einmal sein unterernährtes Herz ganz dem deutschen Idealismus aufschließen und all jenen wahnwitzig großartigen Spekulationen nachspüren, ohne dabei zu fragen, ohne überhaupt fragen zu können, wozu eigentlich, sich noch einmal dabei ertappen, wie die Lektüre großer Meister den eigenen Stil beschwingt, beseligt und verflüssigt, sich noch einmal in den Gedanken verlieben, dass es möglich sei, seine Zukunft ganz auf den intimste Erschütterungen und Erleuchtungen seiner Seele fußen zu lassen, einmal nicht historisieren, psychologisieren, kritsieren, kontextualisieren, mit einem Wort: einmal den Dingen nichts von ihrer Würde tödlich entreißen, sondern sie - Oh mein Gott! - zu verstehen trachten, noch einmal sein Leben daran setzen, einen Satz Hölderlins zu verstehen, sich noch einmal bewusst machen, zu welch unerhörten Dingen die Samen in einem angelegt sind, zu was man eigentlich fähig wäre, wenn man nur endlich aufhörte, der eigenen Stimme, einer leicht heiseren, zart gebrochenen, keinesfalls aber gebrechlichen Stimme, davonzulaufen, sondern sich ein Ohr wachsen ließe für ihre Einflüsterungen, sich noch einmal dem Schlaf der Welt entreißen, noch einmal all die schalen Kompromisse von sich abstreifen wie ein Schlangentier seine alte Haut, um sich verjüngt und gereinigt wiederzugewinnen, noch einmal zum Lyriker, zum Dramatiker und schwärmerischen Naturforscher werden, der im Gras unter Bäumen liegt, um den Himmel zu studieren, die Wolken, den Wind zu spüren, sich ganz eins mit einer Erde fühlend, die letztlich doch zu mächtig ist, als dass der Mensch sie jemals zerstören könnte, noch einmal ein paar feurig-trotzige Zeile niederschreiben, die beweisen, dass man mit dieser Welt noch nicht fertig ist - um schließlich Seite 137 bis 149 so zu transkriptieren und auszudrucken (mit Deckblatt, versteht sich), wie es der Seminarleiter, ein wahrer Detailsadist, für 4CP nun einmal verlangt.

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